Berlinale 16: EUROPE, SHE LOVES von Jan Gassmann (Panorama)

© 2:1 Film, Zürich
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Zwei „richtige“ Schweizer Filme laufen an der Berlinale. Beide im Panorama. Und einer, Europe, she loves, hat heute die Reihe Panorama Dokumente eröffnet. Dass ausgerechnet der Schweizer Jan Gassmann einen intimen Blick auf die Ränder Europas gewagt hat, mag verblüffen. Aber wie er es tut, verblüfft noch mehr.

Berlinale_Balken_2016

Jan Gassmann ist einer der Köpfe, welche die Schweiz mit Heimatland erfolgreich ins Chaos gestürzt haben. Für einmal war unser kleines apartes Land nicht im ruhigen Auge des Sturms, sondern mitten im Wirbel.

Aber zerfällt Europa wirklich von den Rändern her? Die Schweizer wollten es genauer wissen, Gassmann machte sich auf die Reise, wieder mit Ramon Giger an der Kamera.

Dublin und Thessaloniki, Tallinn und Sevilla sind nun die Orte, über welche dieser Dokumentarfilm seine eben so sanften wie unerbittlichen Flügel aufspannt, Europa den Puls nimmt, direkt an den Herzen, in den Köpfen und hin und wieder auch in den Betten von vier Liebespaaren.

© 2:1 Film, Zürich
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In Dublin kämpfen Siobhan und Terry mit ihrer Drogensucht und Hoffnungslosigkeit. In Tallinn tanzt Veronika im Animationsbetrieb eines Nachtclubs. Tagsüber kämpft sie um den Zusammenhalt ihrer Patchworkfamilie. In Thessaloniki ist Penny im Daueraufbruch, während sich ihr Freund Niko mit dem Austragen von Pizza zu begnügen scheint.

Bloss in Sevilla scheint die Liebe stärker als die Zukunftssorgen; Caro schafft die Zulassung zur Weiterbildung nicht. Aber vor allem stört sie sich an Juans möglicher Untreue.

Es ist eine radikale Idee, Europa über vier Paare zu vermessen. Aber die Vermessenheit zahlt sich aus. Gassmann setzt auf die Intimität. Er hört seinen Paaren beim Streiten zu, die Kamera ist beim Sex dabei, und die forcierte Nähe erzeugt schliesslich tatsächlich Momente fatalistischer Ehrlichkeit.

Ob die der schieren Gewöhnung geschuldet sind, der Selbstinszenierung der Paare oder der Szenenauswahl aus vielen, vielen wohl auch ereignislosen Drehtagen, ist dabei unerheblich. Dass viel mehr Material gedreht wurde, mehr Paare involviert waren, auch andere Städte, das spielt keine Rolle mehr.

Europe, she loves bezieht seine Kraft und seine Wirkung nicht zuletzt aus seiner Forciertheit. Da ist eine Absicht spürbar, eine Unbedingtheit, eine Komplizenschaft zwischen Akteuren und Filmemachern. Normalerweise ein Unding im Dokumentarfilm, eine Gefahr, ein Tabu.

Aber in diesem Film geht es um Gefühle, subjektive Zustände unter objektiv nur schwer fassbaren Umständen. Der reine Kampf um einen geregelten, menschenwürdigen Alltag unter immer prekärer werdenden Bedingungen spiegelt sich im Gestaltungswillen aller an diesem Film Beteiligten.

Die Paare forcieren ihre Präsenz auch im Intimen; das wirkt oft wie pure Selbstversicherung: Sind wir noch da? Und die Filmemacher forcieren die Ästhetik, die Gestaltung. Diese Generation kümmert sich nicht mehr (immer) um den Purismus der alten Schule. Die machen Kino, auch im Dokumentarischen. Die bringen sich ein, zwingen zum Staunen.

Es gibt Bilder in Europe, she loves, welche in ihrer Schönheit überwältigend sind. Es gibt Momente, die sind es in ihrer Verzweiflung und andere in ihrer puren, intimen Verlorenheit.

Dabei können Gassmann und Giger auch puristisch sein, klassisch dokumentarisch auf der Suche nach den Grenzbereichen. Das haben sie etwa bewiesen mit Karma Shadub, jener schmerzlichen Vatersuche von Ramon Giger, die Künstlerportrait, Familienstellen und Befreiung in einem war, und doch ein Dokumentarfilm in aller Redlichkeit.

© 2:1 Film, Zürich
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Europe, she loves ist beeindruckend, nur schon als Versuch, die Realität hinter der europäischen Idee aufzuspüren. Für einmal sind es nicht die immer wieder neu ausgehandelten sozialen und politischen Regeln, die Brüsseler Politik, sondern ihr Spiegel im Privaten, die Verhandlungen, Zwänge, Hoffnungen und Enttäuschungen unter den Menschen, der kleinsten politischen Einheit im Ganzen.

Es ist erstaunlich, wie viele harte und weiche Fakten in den 100 Minuten zusammenkommen. Aber noch viel erstaunlicher ist das Gefühl am Ende: Dieses Europa, das existiert. Diese Menschen, die kennen wir. Das sind wir.

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