Cannes 16: SIERANEVADA von Cristi Puiu (Wettbewerb)

Valer Dellakeza und Mimi Branescu © Mandragora
Valer Dellakeza und Mimi Branescu © Mandragora

Vierzig Tage nach dem Tod seines Vaters trifft sich die Familie des 40jährigen Arztes Lary in der Wohnung der Eltern in Bukarest zu einer Gedächtnisfeier. Weder die Feier noch das geplante Essen verlaufen wie erhofft.

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Ziemlich genau in der Mitte dieses 173 Minuten langen Familienfeierdramas schliesst ein Pope eine lange Anekdote mit der Bemerkung, Kürze sei die Seele des Witzes. Seine Geschichte hatte sich darum gedreht, wie er beinahe der Versuchung erlegen sei, daran zu glauben, die Wiederkehr Christi sei bereits unbemerkt von den Menschen erfolgt und jede Rettung damit verloren.

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Was dem frommen Mann Tränen der Rührung in die Augen treibt, fördert beim Publikum und beim zunehmend verunsicherten Lary eher die Lachtränen. Beim Publikum, weil Regisseur Puiu hier seinen Film mit perfekter Selbstironie zu kommentieren scheint. Und bei Lary, weil die stundenlangen Diskussionen und Streitereien unter den Familienmitgliedern langsam an die Substanz gehen.

Sierranevada - Cristi Puiu (9)

Auch wenn Puiu zum ersten Mal im Wettbewerb von Cannes auftaucht, ist er doch eigentlich einer der Pioniere des neuen rumänischen Films. 2005 gewann er mit Der Tod des Herrn Lazarescu den Preis Un certain regard in Cannes. Sein verdientes Renommee sorgt unter anderem dafür, dass jene, die sich von den fast drei Stunden dieses Films nicht abschrecken lassen, auch bereit sind, die konsequente Machart zu anerkennen.

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Es geht um Erinnerungen und Wahrnehmungen. Die Frau sieht nur die Untreue ihres Mannes, er erkennt seinerseits die Perfidie ihrer Rache. Der Sohn erinnert sich daran, wie sein mit allen Wassern gewaschener Vater eine abstruse Lügengeschichte seines zehnjährigen Bruders für bare Münze nahm. Wahrscheinlich einfach, weil er es so wollte.

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Der nun erwachsene Bruder, Kommunikationsoffizier bei der Armee, erklärt, er fürchte sich mittlerweile vor allem, weil seine ganze Generation vor den historischen Realitäten viel zu lange die Augen verschlossen hatte.

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Der grösste Teil des Films spielt in der Wohnung der Mutter. Die hat einen zentralen Gang und davon abgehend Türen in alle Richtungen, ins Bad, in die Toilette, ins Wohnzimmer, in die Küche, ins Schlafzimmer. Und überall sind die Verwandten am Reden.

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Die Kamera steht immer auf einem Stativ, stets auf Augenhöhe, meist fix am gleichen Punkt, zum Beispiel im Gang, und schwenkt bei Bedarf von Zimmer zu Zimmer, von Gesicht zu Gesicht. Puiu evoziert damit nicht zuletzt den unbeteiligten Blick eines Abwesenden, vielleicht des Verstorbenen Vaters.

Wenn eine Figur eine Diskussion scheut, verlässt sie den entsprechenden Raum oder betritt ihn nicht. Türen werden immer wieder geschlossen, von innen, von aussen.

Es gibt eine lange Stellvertreterdiskussion um die Veschwörungstheorien zu 9/11, und dies vier Tage nach dem Pariser Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo. Eine Tante verteidigt eisern den Kommunismus der Jahre vor Ceaușescu, ihre gläubige Nichte verteidigt weinend die Kirche.

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Es sind die üblichen politischen Diskussionen, die an Familienfeiern verdeckten Ärger und Ängste kanalisieren. Bloss dringen die tatsächlichen Sorgen, Meinungen und unterschiedlichen Blickwinkel immer deutlicher zutage.

Man kann Sieranevada klassisches hui clos verstehen, als metaphorisches oder als reales Familiendrama. Aber auch genau so gut als Gesellschaftsbild, als Momentaufnahme der rumänischen Gesellschaft. Allerdings müsste man dann bald auch zugeben, dass das Bild mit wenig Änderungen auch auf den Rest Europas passen dürfte.

Und dazu passt auch Cristi Puius Erklärung für den Titel des Films. Er habe sich immer darüber geärgert, dass Filme in anderen Sprachen andere Titel bekämen. Insbesondere natürlich Filme aus Rumänien, deren Titel schon in Cannes eine englische und eine französische Umdeutung erfahren. Und da habe er eben einen Titel gesucht, der auf der ganzen Wlet gleich bleiben könnte. Zwar schreibe man fast überall Sierra Nevada in zwei Worten, nicht aber in Rumänien. Und dann habe er noch ein «r» weggelassen, so dass man sich unwillkürlich frage, ob der Titel vielleicht einfach falsch geschrieben sei. Einen raffinierteren Markenschutz hat es im Kino wohl noch nicht gegeben.

Sieranevada ist mit seinen 173 Minuten so anstrengend wie eine echte aus dem Ruder laufende Familienfeier. Aber deutlich kürzer. Und dazu raffiniert, zuweilen komisch, manchmal bedrohlich und tatsächlich in keiner Sekunde langweilig.

Der erste Film im Wettbewerb von Cannes gewinnt selten die Palme. Erstens, weil er von allen nachfolgenden überlagert wird in der Erinnerung. Und zweitens, weil wir ja immer alle hoffen, dass alle nachfolgenden Filme noch besser sein werden.

Aber Sieranevada ist durchaus gut genug für eine verdiente Palme. Oder den Jurypreis.

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