Cannes 16: I, DANIEL BLAKE von Ken Loach (Wettbewerb)

I Daniel Blake von Ken Loach (1)

In seinem vermutlich letzten Film setzt der Altmeister des britischen «kitchen sink realism» auf die Themen, die ihn immer schon umtrieben: Die Solidarität der kleinen Leute und die Ungerechtigkeit des kapitalistischen Systems. Diesmal ist es ein herzkranker, verwitweter Schreiner, der den Kampf aufnimmt.

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I, Daniel Blake ist eine klassische Loach-Laverty-Kollaboration, der Filmemacher und sein Drehbuchautor haben noch einmal das ganze Arsenal ihres sozialrealistischen Agitationskinos aufgefahren. Dabei wird gleichzeitig deutlich, warum niemand sonst mehr diese Art von Filmen macht. Und warum sie uns fehlen werden.

Der Zimmermann Daniel Blake (Dave Johns) hat auf dem Gerüst einen Herzanfall erlitten. Seine Ärztin hat ihn nach der Therapie für unbestimmte Zeit krank geschrieben. Aber als der Film einsetzt, muss er gerade einer «Health Care Professional» ein fünfzigseitiges Fragemanual beantworten, das klären soll, ob er Anspruch hat auf Krankentaggeld. Die Fragen sind so angelegt, dass er bei der Auswertung für arbeitsfähig erklärt wird und damit in die Arbeitslosenmühle gerät. Das sei der einzige Weg, Unterstützung zu bekommen, erklärt ihm der Mann vom Callcenter.

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Daniels Kampf gegen die Bürokratie des abgewrackten britischen Wohlfahrtssystems ist aussichtslos, eben so aussichtslos wie der der jungen alleinerziehenden Mutter Katie, die mit ihren beiden Kindern von London in den Norden abgeschoben worden ist, wo die Sozialwohnungen noch erschwinglicher sind. Blake setzt sich im Amt für sie ein, worauf er und Katie und ihre beiden Kinder vor die Türe gesetzt werden.

Der Film ist randvoll mit typischen Szenen: Solidarität unter den Nachbarn und den «real blokes», Bürokratie, die Erkenntnis, dass das Sozialsystem absichtlich darauf ausgerichtet ist, möglichst viele Unterstützungsbezüger zu zermürben und loszuwerden, und gelegentliche zelebrierte Schlitzohrigkeit.

Die kommt beispielsweise zum Tragen, wenn Blakes junger schwarzer Nachbar mit seinem chinesischen Partner, einem Chelsea-Fan und Schuhfabrikarbeiter via Skype verhandelt. Der schickt ihm dann in kleinen Paketen Original-Marken-Turnschuhe direkt ab Fabrik, welche der junge Mann auf der Strasse für die Hälfte des Ladenpreises verhökert. Es sind keine Fälschungen, aber natürlich Schwarzimporte.

Dass Katies Kinder den alten, stets hilfsbereiten Blake ins Herz schliessen, ist absolut nachvollziehbar. Dass er dann fast zerbricht, als er herausfindet, dass sie trotz seiner Hilfe als Escort arbeitet, um wenigsten das Geld für das Allernötigste zusammen zu bekommen, das ist dann schon eine Spur melodramatischer.

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I, Daniel Blake geht zu Herzen. Die junge Dame im Sitz neben mir erklärte, sie habe noch keinen Loach-Film gemocht. Der sei ein Sozialist und das sei nicht mehr «very fashionable». Ihre Mutter habe seine Filme allerdings geliebt. Am Ende des Films sass sie heulend und schnuffelnd neben mir.

Am Realismus der von Loach und Laverty geschilderten Zustände wird niemand ernsthaft zweifeln. Die dramatische Konstruktion der Geschichte, die ganze klassische Rührmaschine, die ist allerdings unzweifelhaft in die Jahre gekommen. Was nicht heisst, dass sie nicht weiterhin sehr wirkungsvoll betrieben werden kann. Bloss ist unser Abwehrarsenal einfach grösser geworden. Not very fashionable, Ken Loach. Aber very lovable.

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