Cannes 16: MA LOUTE von Bruno Dumont (Wettbewerb)

Fabrice Luchini als André Van Peteghem © Praesens
Fabrice Luchini als André Van Peteghem © Praesens

Irgendwo zwischen Tati, Tintin und seinem eigenen P’tit Quinquin hat sich Regisseur Bruno Dumont in seiner neuen Groteske verrannt. In der Baie de la Slack in Nordfrankreich treffen im Jahr 1910 reiche Müssiggänger auf arme Muschelsammler. Und dann verschwinden einige dieser frühen Touristen spurlos.

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In diesem 1910 ist dieser Küstenstrich von Frankreich eben erst entdeckt worden von den reichen Parisern. Man baut absurde Küstenvillen in wildem Kolonialstil, sogenannte «Folies». Man schwärmt von Natur und Meer und Schönheit und Wind.

Man lässt sich bei Ausfahrten mit den ersten Automobilen von den Fischersfrauen Omeletten servieren. Und bei Ebbe lassen sich die Herrschaften auf gerne mal von den Einheimischen durch den Schlamm und das Brackwasser der Bucht tragen.

Vor allem Ma Loute (Brandon Lavieville), der älteste Sohn der Muschelsammlerfamilie Brufort, zerplatzt jeweils fast vor unterdrückter Wut, wenn er wieder so ein Dämchen oder ein Jüngelchen in Knickerbockern auf die andere Seite trägt.

Allerdings hat die Familie der Bruforts sich auf ihre Weise mit diesem neuen Tourismus arrangiert. Vater und Sohn bieten auch Fährdienste mit dem Ruderboot an, wenn die Flut es ermöglicht. Und warum immer wieder Touristen spurlos verschwinden, das wissen sie auch.

Zumindest vermutet dies der unglaublich dicke Polizist Alfred Machin (Didir Després), der mit den sehr kleinen und feminin wirkenden Sidekick Malfoy (Cyril Rigaux) den Fällen nachgeht.

Brandon Lavieville, Raph, Didier Després, Cyril Rigaux © Praesens
Brandon Lavieville, Raph, Didier Després, Cyril Rigaux © Praesens

Dabei reicht es nicht, dass beide schwarze Anzüge tragen und Melonen auf dem Kopf, wie die dussligen Detektive Dupond und Dupont bei «Tintin» (Tim und Struppi).

Dupont et Dupont von Hérgé (Tintin)
Dupont et Dupont von Hérgé (Tintin)

Machin ist auch noch unglaublich blöd und kann mit seiner stets grösser werdenden Körperfülle nicht selber aufstehen, wenn er fällt. Und fallen, das tut er konstant. Er rollt ganze Dünen hinunter und ruft dazu ausdauernd «Malfoy, Malfoy, Malfoy». Das ist beim ersten Mal leidlich komisch, ab dem zweiten Mal aber für fast jedes Publikum bereits ermüdend.

Noch viel anstrengender sind allerdings die reichen Gecken der Familie Van Peteghem. Allen voran der vom unvergleichlichen Fabrice Luchini gespielte André Van Peteghem. Mit hochgezogenen Schultern, spastischen Bewegungen, einer vertrottelt pompösen Redeweise und einem zeitgenössisch absurden Bart verkörpert er seine an sich nicht uninteressante Figur wie eine jener sattsam bekannten Briten-Karikaturen in deutschen Komödien der sechziger und siebziger Jahre.

Juliette Binoche als aude Van Peteghem mit Raph, Lauréna Thellier und Manon Royère © Praesens
Juliette Binoche als aude Van Peteghem mit Raph, Lauréna Thellier und Manon Royère © Praesens

Valeria Bruni-Tedeschi spielt seine Frau und Cousine Isabelle, Juliette Binoche seine Schwester Aude. Und wie sie sie spielen! Als karikierende Knallchargen im Stummfilmmodus, aber permanent sprechend, seufzend, schwärmend oder heulend.

Der Film steigert seine Absurdität eigentlich recht raffiniert und beiläufig. Andauernd kommt es zu neuen schockierenden Enthüllungen, verblüffenden Momenten, tragischen Augenblicken. Und die Konstellation mit den eben so arroganten wie schwärmerischen und dekadenten Reichen und den zupackenden, von unterdrückter Wut und tierischer Kraft bebenden Armen böte genügend Spannung für einen Dumont-Film mit dem gewohnt bedrohlichen Substrat.

Aber Dumont beruft sich auf die Tradition der Burleske, er jagt seine Geschichte und seine Figuren durch die Mechanik des Kasperle-Theaters wie einst die One-Reelers die frühen Stummfilm-Komödien.

Gut möglich, dass diese Bud-Spencer-und-Terrence-Hill-Komik im Kontrast mit dem reichen Stoff und dem grossartigen Dekor beim einen oder anderen gutgelaunten Publikum bestens ankommt. Wer aber gerade das zurückhaltende Spiel mit dem Absurden und dem Unheimlichen bei Dumont bisher so geliebt hat, kann von diesem Film fast nur enttäuscht werden.

Die Van Peteghems: Juliette Binoche, Vaeria Bruni-Tedeschi und Fabrice Luchini © Praesens
Die Van Peteghems: Juliette Binoche, Vaeria Bruni-Tedeschi und Fabrice Luchini © Praesens

Im Rückblick wirkt Ma Loute fast so, als ob Dumont die 208 Minuten seines Vierteilers P’tit Quinquin mit doppelter Geschwindigkeit und einer ganz klein wenig geänderten Geschichte laufen liesse. Und damit killt er ziemlich effizient fast alles, was an Grossartigkeit in dem Projekt versteckt wäre.

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