Cannes 16: TONI ERDMANN von Maren Ade (Wettbewerb)

Sandra Hüller und Toni Erdmann © filmcoopi
Sandra Hüller und Toni Erdmann © filmcoopi

Nach dem Tod seines alten Hundes reist der pensionierte Musiklehrer Winfried spontan nach Bukarest, um seine Tochter zu überraschen, die dort für eine deutsche Consulting-Firma arbeitet. Aber die erhoffte Nähe stellt sich nicht ein. Da verwandelt sich Winfried in den seltsamen Toni Erdmann.

Cannes_Balken_2016

Toni trägt eine Perücke und falsche Zähne, die hervorstehen wie bei Dr. Jekylls alter ego Mister Hyde. Vor allem aber kann Toni die taffe Ines in ihrer Business-Welt herausfordern. Er taucht überall auf, gibt sich wahlweise als Life-Coach ihres wichtigsten Auftraggebers aus, oder als deutscher Ambassador.

Und Ines nimmt die Herausforderung nach dem ersten Schrecken an, spielt mit, integriert diesen Toni Erdmann in ihre Business-Meetings, wo er einen seltsam positiven Effekt zu haben scheint.

Sandra Hüller als Ines und Peter Simonischek als Winfried/Toni haben Rollen und Szenen in diesem Film, die man nie mehr vergessen wird. Maren Ade ist das rare Kunststück gelungen, den tragischen, traurigen Clown glaubhaft und überzeugend in eine Business-Realität zu integrieren. Und Peter Simonischek spielt den Toni Erdmann als Winfried, nicht als Mr. Hyde.

Sowohl Hüller wie auch Simonischek führen ihre Figuren eng an der Linie zwischen wilder Entschlossenheit und jederzeitigem Rückzug entlang, das hält den Film auf einem Spannungsniveau, das sich mehr und mehr in wildem Gelächter entladen muss – beim Publikum.

Sandra Hüller und Peter Simonischek © filmcoopi
Sandra Hüller und Peter Simonischek © filmcoopi

Je trauriger die Realitäten, desto lustiger die Erkenntnisse. Den Sexismus, den Ines in ihrer Männerwelt eher nebenbei erfährt, dreht sie um, ihren Untergebenen und Sexpartner / Freund demütigt sie so grotesk und einfallsreich wie ihre hübsche junge Assistentin. Aber mit den Interventionen von Toni Erdmann schärft sich ihr Blick und ihr Sensorium und sie erkennt mehr und mehr die grotesken Seiten ihrer ritualisierten Power-Welt.

Maren Ade, die 2009 in Berlin für Alle anderen den grossen Jurypreis gewonnen hat (Birgit Minichmayr wurde für ihre Rolle in dem Film mit dem Darstellerinnen-Preis geehrt) gelingt mit Toni Erdmann ein Kunststück nach dem anderen.

Die sich steigernden grotesken und peinlichen, aber zugleich charmanten und wirkungsvollen Auftritte Tonis werden immer im richtigen Moment aufgefangen, die Komik überschlägt sich nie, der Schmerz wird immer stärker fühlbar.

Der Höhepunkt und die Katharsis für Ines wie für Winfried kommt mit einer Geburtstagsparty, welche Ines «zur Teambildung» in ihrer Wohnung in Bukarest ausrichtet. Weil ihr, eben so praktisch und wunderbar realistisch wie auch metaphorisch gefilmt, ihr Kleid zu eng ist, verzichtet sie darauf und empfängt die verdutzten Gäste nackt. «Teambildende Massnahme?» fragt ihr Boss und muss sich erst mit einem Bier Mut antrinken, bevor er wieder auftaucht.

Peter Simonischek als Toni Erdmann © filmcoopi
Peter Simonischek als Toni Erdmann © filmcoopi

Und auch Toni taucht wieder auf, in einer weiteren Verwandlung, zu der wir lieber nicht zu viel verraten wollen hier.

Der emotionale Höhepunkt des Filmes ist allerdings schon etwas früher passiert. Toni platzt als angeblicher «deutscher Ambassador» in eine Familienparty, kapert ein elektrisches Klavier und nötigt Ines, die ihm gefolgt ist, zum Dank für die Einladung Whitney Hustons «The Greatest Love of All» zu schmettern – ganz offensichtlich ein Kindheitsritual zwischen Vater und Tochter, dem sie erst zögernd und dann immer hingerissener folgt. Szenenapplaus ist selten in den Pressevorführungen in Cannes, aber hier kam er in Wellen und mit Begeisterung, wie auch später noch einmal.

Der überaus geschätzte Kollege Florian Keller, Redaktor bei der WoZ in Zürich, hat eine Filmjournalisten-Regel ausformuliert: Traue keinem Urteil, das in Cannes gefällt wurde. Schon gar nicht deinem eigenen. Das ist ein guter Rat, weil in der Blase, die wir in den zwölf Mai-Tagen hier unten bilden, sowohl Begeisterung wie auch Abneigung heftiger aufflackern, als wir meist wahrhaben mögen. Müdigkeit oder Arbeitseuphorie sind durchaus filmfremde Faktoren.

Aber Toni Erdmann ist ein Wurf von einem Film, ein traurig-komisches Meisterstück mit grossem Atem, das über seine fast drei Stunden trägt, sich steigert und dann sogar ein überzeugendes Ende findet.

Regisseurin Maren Ade © filmcoopi
Regisseurin Maren Ade © filmcoopi

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