Cannes 16: AMERICAN HONEY von Andrea Arnold (Wettbewerb)

Star (Sasha Lane)
Star (Sasha Lane)

Die junge Star verlässt ihre jüngeren Geschwister und ihr kaputtes Familienumfeld und schliesst sich einer Truppe jugendlicher Verkaufshippies an. Für wenig Geld verhökern sie von Tür zu Tür Zeitschriften-Abos und leben permanent «on the road».

Cannes_Balken_2016

Andrea Arnolds bisherige Filme spielten in ihrer britischen Heimat. Red Road (2006) war ein Überwachungskamerathriller, Fish Tank (2009) die Geschichte einer 15jährigen aus dem britischen Prekariat und mit Wuthering Heights hat sie dann gar noch ihre sehr eigenwillige Interpretation des Brontë-Romans realisiert.

Danach hätte sie eigentlich Natalie Portman in Jane Got a Gun inszenieren sollen, hat sich aber unter nie öffentlich geklärten Umständen mit der Produktion überworfen.

Nun ist American Honey ihr erster in den USA gedrehter und auch dort spielender Film, ein Experiment einmal mehr, mit grossen Ambitionen, die Arnold weitgehend einlöst.

Auffällig ist schon das heute kaum mehr gebräuchliche alte Fernsehformat 4:3 statt 16:9 oder sonst ein Breitbild. Dann erinnert der Film mit seinem semidokumentarischen Kamerablick an Larry Clark und Kids, später auch an Gus van Sant und diverse Road Movies bis hin zu Malicks Badlands.

Gleichzeitig ist aber fast alles anders. Zwar verliebt sich Star (Sasha Lane) in den Meisterverkäufer der jungen Truppe, den von Shia LaBeouf gespielten Jake, der zugleich Rekrutierer ist und der halboffizelle Liebhaber von Krystal, welche die bunte Truppe mit harter Hand leitet. Aber Star ist kein verträumter Teenager, sie ist rebellisch bis ins Detail, verweigert sich sogar Jakes Anleitung bei Verkaufen, weigert sich, irgendwelche Geschichten für den Abo-Absatz zu erzählen – und erwirkt sich gerade dadurch den Respekt von Jake. Und die Feindschaft von Krystal.

Star ist eine ungewöhnliche Frauenfigur, weder zahm noch duldsam, aber auch nicht offensiv aggressiv, provozierend direkt und herausfordernd. Und die jugendliche Verkaufstruppe im Tourbus, ihren Motelaufenthalten, ihrer Musik und ihren Ritualen erinnert tatsächlich mehr an einen Stamm, einen Wanderzirkus, eine Hippie-Kommune on the Road.

Die Freiheit, welche sich diese jungen Menschen erhalten, hat einen Preis, ihr Job ist Knochenarbeit und sie pushen sich mit Slogans, Rap und gruppendynamischen Spielchen wie ein MacDonald’s-Team von Leistung zu Leistung.

Die Verkäufertruppe um Jake (Shia Labeouf) mit Star (Sasha Lane)
Die Verkäufertruppe um Jake (Shia Labeouf) mit Star (Sasha Lane)

Im Prinzip hat der wilde, überschwängliche Haufen die kapitalistischen Grundregeln für sich adaptiert und knallhart zu einem Stammesritus gemacht. Gleichzeitig wird aber fast alles dermassen offen deklariert und ausgesprochen, dass niemand behaupten kann, er oder sie sei nicht aus freien Stücken dabei. Ausser, wenn es um Liebe oder Beziehungen unter den Gruppenmitgliedern geht. Die sind nicht erlaubt, denn die würden sich der Kontrolle der Chefin entziehen.

Natürlich aber lässt sich gerade diese Dynamik nicht unterdrücken.

Dass Star trotz ihrer Provokation und ihren zum Teil fahrlässig naiven Verkaufsversuchen nie vergewaltigt wird, obwohl sie sich wiederholt in zweifelhafte Männergesellschaft begibt, damit spielt der Film wohl auch. Und das ist ein verblüffendes, ja, fast beschämendes Spiel. Man merkt als Zuschauer, wie sehr uns das Genrekino konditioniert hat. Und man merkt, wie eigenständig, frei und überraschend gerade ihre unerschrockene, nicht ängstliche Haltung die Figur von Star macht.

American Honey hat nicht durchwegs die gleiche Dichte und ob die ganzen 162 Minuten wirklich zwingend sind, fragt man sich auch gelegentlich. Aber das ist ein Film mit einer deutlichen Handschrift, mit Figuren, die man so noch kaum je erlebt hat auf der Leinwand und vor allem mit einem Blick, der sich ganz eindeutig vom gewohnten Männerblick des Kinos abhebt.

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