Cannes 16: LA FILLE INCONNUE von Jean-Pierre und Luc Dardenne (Wettbewerb)

Adèle Haenel ist die Ärztin Jenny Davin in 'La fille inconnue' © Xenix
Adèle Haenel ist die Ärztin Jenny Davin in ‚La fille inconnue‘ © Xenix

Zwei Palmen haben sie schon, und in der Regel jedes zweite Jahr einen Film im Wettbewerb von Cannes. Die belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne sind Habitués. Ihrem jüngsten Film merkt man das auch ein wenig an.

Cannes_Balken_2016

Adèle Haenel (eben noch bestens in Erinnerung als überlebenstrainierender Teenager in Les combattants von Thomas Cailley) spielt die junge Ärztin Jenny Davin. Sie hat einige Monate die Praxis eines sich zurückziehenden alten Hausarztes geführt und soll in ein paar Tagen in einer renommierteren Klinik in Liège anfangen.

Als sie an ihrem letzten Abend eine Stunde nach Praxisschluss die Türe nicht mehr öffnet, als es klingelt, stellt sich am nächsten Tag heraus, dass da eine junge Frau Einlass suchte, die kurz darauf tot mit Schädelbruch am Ufer der gegenüberliegenden Meuse gefunden wurde.

Jenny ist dermassen erschüttert, dass sie nicht nur auf den prestigeträchtigen Klinikjob verzichtet und die kleine Allgemeinpraxis übernimmt, sie beginnt auch auf eigene Hand nachzuforschen, wer das Mädchen gewesen sein könnte.

La fille inconue ist zweifellos ein Dardenne-Film, auch wenn das Drehbuch manchmal einen Hauch von Hercule Poirot oder Miss Marple verströmt. Die junge Ärztin, welche sich als Detektivin betätigt, gegen den Widerstand der Polizei, das riecht nach Genrekino.

Aber natürlich inszenieren die Brüder das alles ganz anders. Zum einen ist Jenny keine verschmitzte Heldin, sondern eine in ihren Grundfesten erschütterte junge Frau auf der Suche. Und zum anderen erweist sich schnell, dass der Alltag der Hausärztin mit ihren Besuchen, Anrufen beim Sozialamt, nächtlichen Hilfestellungen und viel Knochenarbeit mindestens den gleichen Raum einnimmt, wie der Plot um die junge Tote.

Einmal mehr ist die männliche Stammgarde der Dardennes mit von der Partie, Olivier Gourmet als nicht ganz sauberer Garagist mit einem alten Vater, der mehr weiss, als er zugeben mag. Und Jérémie Renier als Vater eines Jungen, der offenbar das Mädchen gesehen hat, als sie noch lebte, aber das nicht zugeben will.

Die Dardennes, die mit Vorliebe auf weibliche Hauptfiguren setzen (Arta Dobroshi in Le silence de Lorna, Cécile de France in Le gamin au vélo, Marion Cotillard in Deux jurs, une nuit) wechseln ihre Schauspielerinnen von Film zu Film, behalten aber aber ihre männlichen Lieblingsdarsteller nach Möglichkeit bei.

Aber für La fille inconnue scheinen sie ihre übliche kunstvolle Verschränkung von menschlichem Dilemma mit mit menschlichem Alltag eine Spur zu weit getrieben zu haben. Oder es liegt einfach an der Ausgangssituation, die jedem zweiten Fernsehkrimi Konkurrenz machen könnte: Es gibt Momente, da wirkt der Film konstruiert, der sorgfältige Realismus eingeschoben.

Auch die Dardennes haben damit für einmal so etwas wie Routine erreicht, wenn auch auf sehr hohem Niveau.

Jean-Pierre und Luc Dardenne
Jean-Pierre und Luc Dardenne

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