Nichts weniger als die grosse Zombie-Apokalypse hat Festivaldirektor Carlo Chatrian zur Eröffnung der 69. Ausgabe von Locarno gewählt. Ein durchaus mutiger Entscheid. Allerdings nicht darum, weil Zombies nicht massen- und familientauglich wären. Sondern eben gerade darum, weil die Untoten ja mit dem globalen Erfolg von Serien wie «The Walking Dead» längst Mainstream sind.
Nun hat allerdings der relativ junge Roman «The Girl with all the Gifts» von Mike Carey wieder einen grossartigen Twist gefunden, um den Untoten neues Leben einzuhauchen: Die Evolution spielt mit. Das tat sie zwar schon im Spätwerk von Zombie-Grossvater George A. Romero, der die Untoten mit einem erwachenden Bewusstsein zu einer Art Revolution der Unterdrückten heranwachsen liess. Aber The Girl With All The Gifts bringt Zombie-Kinder ins Spiel, Kinder mit Zukunft.
Das klingt zunächst einmal schauerlich und ist es auch. Der Film setzt ein in einer unterirdischen Anlage, in der schwer bewaffnete Soldaten jeden Morgen auf Rollstühlen festgebundene Kinder in ein Klassenzimmer rollen. Unter ihnen ist die besonders aufgeweckte Melanie (Neuentdeckung Sennia Nanua), welche ihre sichtlich nervösen Bewacher freundlich beim Namen begrüsst und sich in der Klasse der Gefesselten als lernbegierig und gelehrig zeigt.
Sie hat längst das Herz der jungen Lehrerin Helen Justineau (Gemma Arterton) erobert und diese das ihre. So sehr, dass ihr die Lehrerin mit Tränen in den Augen über den Kopf streicht, nachdem sie aus den griechischen Sagen die Geschichte der Pandora und ihrer Büchse erzählt hat.
Was wiederum Sgt. Eddie Parks (Paddy Considine) dazu bringt, zu demonstrieren, warum diese Kinder wie gefährliche Tiere bewacht und angebunden werden. Er wäscht sich mit Spucke das geruchshemmende Gel vom Unterarm und hält diesen einem Jungen vors Gesicht. Worauf sich dieser innert Sekunden in geifernde, bellende, schnappende Gier verwandelt.
Es ist nur eine der vielen Stärken dieses Films, dass er die Erklärung für die Vorgänge möglichste lange hinauszögert, lange genug jedenfalls, dass einem die Kinder und insbesondere Melanie ans Herz wachsen.
Dass die Welt draussen kaum mehr existiert, erfährt man auch erst, nachdem die Zombies den militärischen Komplex überrannt haben und nur der Sergeant, zwei weitere Soldaten, die junge Lehrerin mit Melanie und die von Glenn Close gespielte Forscherin Dr. Caroline Caldwell in einem gepanzerten Fahrzeug flüchten können.
Nun folgen Szenen in der Landschaft und im von Millionen von mehrheitlich kathartischen Zombies bevölkerten Londen, Szenen, wie man sie aus den britischen Vorläufern 28 Days Later von Danny Boyle und ihren Ablegern kennt. Und natürlich Szenen, wie sie The Walking Dead Staffel für Staffel genüsslich ausmalt.
Bloss findet dieser Film immer wieder Zeit für Reflexion und evolutionstheoretisch unterfütterte wissenschaftliche Thesen, die vor allem über Melanies Fragen und die immer ausführlicheren Antworten von Dr. Caldwell zu weit erschreckenderen Gedankengängen führen.
Mit wenigen, aber erstklassigen Schauspielern und Aberhunderten von Statisten holt Regisseur Com McCarthy mehr als das Maximum aus dem Setting heraus. Dabei spielt er auch immer wieder mit den abgenutzten Standardmomenten des Genre-Kinos, baut Szenen auf und lässt sie in völlig unerwarteten Twists münden.
Wir, die Untoten, sind längst zum grossen Gesellschaftsgarn unserer Zeit avanciert. Die hirnlosen, mörderischen Massen, die aussehen wie wir und unsere Liebsten, aber mit Vernunft nicht mehr zu stoppen sind: Sie treffen uns ins Mark.
Dass es nun auch unsere Kinder treffen soll, und dass die möglicherweise eine neue, ganz andere Art finden könnten, damit umzugehen: Das macht die schreckliche Grösse dieser Geschichte aus. Und Colm McCarthy bringt das meisterlich auf den Punkt.
Ein Festival, das mit so einer Apokalypse eröffnet wird, weist damit klar über die Trampelpfade des braven Kultur-Kinos hinaus in eine Zukunft, die Angst macht und hoffen lässt.