Locarno 16: MARIJA von Michael Koch (Wettbewerb)

Sahin Eryilmaz (Cem), Margarita Breitkreiz (Marija) © frenetic
Sahin Eryilmaz (Cem), Margarita Breitkreiz (Marija) © frenetic

«Wenn Du sie nicht abziehst, ziehen sie dich ab», erklärt Cem (Sahin Erylmaz) der stumm empörten Marija (Margarita Breitkreiz) in einer der heruntergekommenen Wohnungen, die er überteuert an illegal eingewanderte Landsleute vermietet.

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Eben hat er einem verzweifelten Vater ungerührt dreihundert Euro abgeknöpft dafür, dass er ihm hilft, den Kindergeld-Antrag für seine drei kleinen Kinder auszufüllen und aufzugleisen.

Margarita Breitkreiz © frenetic
Margarita Breitkreiz © frenetic

Michael Kochs Langspielfilm-Erstling ist in Dortmund angesiedelt, in der heruntergekommenen Nordstadt. Die legal angesiedelten Einwanderer und Secondos zocken die Illegalen ab, die Etablierteren nutzen sie als billige, ungeschützte Arbeitskräfte. Jeder versucht, zu überleben, auf Kosten der anderen, wenn es sein muss.

Margarita Breitkreiz © frenetic
Margarita Breitkreiz © frenetic

Auch Marija ist mit ihrer Freundin aus der Ukraine gekommen. Sie hat als Zimmermädchen in einem Hotel gearbeitet und dabei eisern gespart für einen eigenen Coiffeur-Salon. Dann hat sie die Stelle verloren und sich, als sie die Miete nicht mehr zahlen konnte, widerwillig dem Vermieter Cem angedient. Der hat Gefallen gefunden an der jungen Frau, umwirbt sie eher grobschlächtig und setzt sie als Assistentin ein, bei seinen vielfältigen Abzock-Vermittlungen unter seiner Mieterschaft.

Das Drehbuch, welche Michael Koch nach ausgiebigen Recherchen mit Juliane Grossheim geschrieben hat, erweitert das Personal aber noch um einen weiteren Symbiose Kreis von Ausbeutern und Ausgebeuteten.

Margarita Breitkreiz , Georg Friedrich © frenetic
Margarita Breitkreiz , Georg Friedrich © frenetic

Der im Schweizer Film derzeit auffällig präsente (und stets grossartige) Österreicher Georg Friedrich spielt Georg, einen kleinen Bauunternehmer, der schon gesessen hat wegen krummer Geschäfte, und nun wild entschlossen ist, sich etwas Solides aufzubauen – mit Schwarzarbeitern und fein abgestimmten Dumpingpreisen.

Allerdings ist er schon einen Schritt weiter als Marija. Die beiden spüren ihre Gemeinsamkeiten sehr rasch, als sie sich an einer Party treffen, zu der Cem Marija als mehr oder weniger gemietete Begleitung mitbringt.

Michael Koch interessiert sich offensichtlich für die moralischen Grenzen, welche die Menschen sich leisten oder eben nicht mehr leisten, je härter ihre Umgebung wird. Marija verkauft zunächst ihre Arbeitskraft, später dann auch sich selber oder zumindest ihre Präsenz.

Margarita Breitkreiz © frenetic
Margarita Breitkreiz © frenetic

Dabei ist die Theaterschauspielerin Margarita Breitkreiz immer dann am grossartigsten, wenn sie stumm wird. In jenen Momenten, in denen Marija sich selber über eine innere Grenze stösst, sagt sie gar nichts, manchmal so irritierend lange, bis ihr Gegenüber innerlich in die Knie geht.

Michael Koch rahmt seinen Film mit zwei gegensätzlichen Einstellungen. Zu Beginn folgt die Kamera der energisch durch die Strasse gehenden Marija, man sieht sie von hinten, gesichtslos.

Am Ende, als sie mit moralischer und emotionaler Selbstverleugnung ihr Ziel zumindest vordergründig erreicht hat, geht sie mit dem gleichen energischen Schritt auf die Kamera zu. Sie hat jetzt ein Gesicht, eines, das sie nicht mehr ändern kann.

Die Mechanismen des marktwirtschaftlichen Kampfes der Kleinen auf Kosten der noch Kleineren führt der Film von Michael Koch nachvollziehbar vor. Dass man dabei ahnt, dass die Wirklichkeit auch in Dortmund wohl noch bedeutend härter und brutaler sein dürfte, sollte man dem Film nicht als Schwäche ankreiden. Es ist wohl gerade seine zurückhaltung, welche verhindert, dass ich mich als Zuschauer von den Figuren abwende. Was Michael Koch hier gelungen ist, liegt ziemlich genau in der Mitte des programmatischen Sozialkampfkinos von Ken Loach und dem der kunstvollen Menschenauslotung der Dardenne-Brüder.

Regisseur Michael Koch © frenetic
Regisseur Michael Koch © frenetic

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