Filmkritik und Netzpansion

Zwei Kritiker kämpfen um die Allegorie des Films

Wo gehen Kritiker hin, wenn ihnen das Papier unter den Füssen weggezogen wird? Ins Netz natürlich. Und wo finden sich Gleichgesinnte für Nischen-Sparten wie Zombie- oder Science-Fiction-Filme? Auch im Netz. Aber nicht nur. Zur medialen Expansion unserer Leidenschaft über die letzten dreissig Jahre.

King Kong war ein grosser Affe mit einer Frau in der Hand. Auf einer Fotografie in einem Heft. Das Heft hiess bei uns im Haus die «Radiozeitung», auch wenn es vor allem dem Fernsehprogramm gewidmet war. Denn wir hatten keinen Fernseher.

Hinten im Heft gab es Filmkritiken, von einem Mann namens Hans-Rudolf Haller, oder von einem namens Mario Cortesi. Beides Männer, die offenbar auch hin und wieder am Fernsehen Kinofilme vorstellten, in weissen Anzügen, wie man sie damals, Mitte der 70er Jahre, noch tragen konnte.

Aber eben: Wir hatten keinen Fernseher, und darum erfuhr ich von grossartigen neuen Kinofilmen eben über die Kritiken und die bunten Bilder in der Radiozeitung. Da stand auch, dass dieser «King Kong» ein «Remake» sei, von einem schwarzweissen Film von – uff! – 1933.

Im Jahr darauf kam Star Wars ins Kino, ich war hin und weg und wusste auf einmal, dass mein Leben als Bücherwurm eine neue Wendung genommen hatte.

Was ich nicht wusste, damals: Auch die Filmwelt erfuhr eine Revolution. Jaws läutete die Ära der «Blockbuster» ein, das neue Zeitalter der Formel-Filme und der unendlichen Sequels.

Und Star Wars war der erste Blockbuster mit komplettem Merchandising, von Spielfiguren über Malhefte bis zu aufblasbaren Lichtschwertern mit Batterie-Sound gab von da ab alles zu kaufen und die Grenzen zwischen Fan-Kultur und Werbung verwischten sich zusehends.

Davon hatte ich allerdings noch kaum eine Ahnung, als ich rund zehn Jahre später während meines Studium die Chance bekam, Filmkritiken für die Lokalzeitung zu schreiben. Ich hatte freie Hand, ein später Fellini war mein Gesellenstück, ein früher Luc Besson, Nikita mein erstes leidenschaftliches Plädoyer, das zeigen sollte, warum gutes, brutales Action-Kino Kunst war und ins Feuilleton gehörte.

Anne Parillaud in ‚Nikita‘ (1990)

Der Kulturchef der Zeitung liess mir freie Hand und ich schwurbelte wild drauf los. Dass auch verstiegene Texte ihr Publikum fanden, lag wohl vor allem an meiner ungestümen Begeisterung für die ganze Bandbreite des Kinos.

Und die ist vielleicht die einzige Konstante. Denn in den Jahren danach, auf meinem Weg von der Lokalzeitung über die Schweizer Film-Branchen-Zeitschrift, die Sonntags-Zeitung, das Monatsheft FILM bis zum Radio hat sich alles verändert.

Ich begann meine Journalisten Laufbahn mit dem aufkommenden Internet. Ich erlebte hautnah mit, wie die Filmindustrie das Netz nutzte, um sich von der Kritik zu emanzipieren.

Webseiten für Filme wurden eingerichtet, Col Needham erfand die IMDb, die International Movie Database als frühe Wikipedia des Films, und mein Studienfreund und ich hörten auf, die Karteikärtchen der Filmzeitschrift «Zoom» akribisch in unsere eigene Atari-Datenbank zu tippen.

Erste US-Kritiker wie Roger Ebert von der Chicago Sun-Times stellten ihre Filmbesprechungen online, jeder grössere Filmstart wurde bald von einer online-Webkampagne begleitet, und schliesslich kamen mit der Verbreitung des Breitband-Anschlusses Kanäle wie YouTube und «exklusive» Deals der Promotoren, welche den vielen Bloggern Clips und Vorab-Material übergaben – mithin die fast unauflösbare Symbiose von PR, Fankultur und Filmkritik.

Aber natürlich entpuppte sich das Web nicht nur als grosse Emanzipationsmaschine für die Filmproduzenten beim Ausbooten der klassischen Filmkritik, sondern auch als Chance für alle Filmfreunde und Innovatoren. Und, wie zehn Jahre früher für die Musik-Industrie, als Piraterie-Alptraum für die Produzenten.

Heute stecken wir mitten in der «Konvergenz», dem Zusammenfliessen aller publizistischen Kanäle und Ausdrucksformen über alle nur denkbaren Kanäle. Als Radiojournalist verbreite ich meine Audiobeiträge via Podcast, ich schreibe im eigenen Blog und auf der Kultur-Webseite von SRF. Ich tauche in Videoclips auf der SRF-Kultur-Facebook-Seite auf  oder als Experte in Fernsehbeiträgen.

Meine SRF-online-Film-Kolleginnen und -Kollegen entwickeln neue Web- und Fernseh-Formate, Mischformen von Texten und Video.

Die grösste Herausforderung des Webs besteht allerdings auch in seinem grössten Potential.

Für jede Liebhaberin noch so spezieller Film-Genres finden sich spezialisierte Webseiten. Vom Stummfilm bis zum Slasher-Porno, vom der Sammlung aller «Final Girls» bis zu spezialisierten Blooper- und Outtake-Sammlungen gibt es nichts mehr, was nicht zu finden wäre – sofern man bereit ist, sich auf andere Sprachen und allenfalls Filmkulturen einzulassen.

Ganz abgesehen von all den Archiven, Piraterie-Seiten, Wissenschaftlichen Sammlungen, Foren und Begegnungsorten zum noch so nerdigen Austausch: Wer sucht, der findet.

Was fehlt, ist die Instanz des Vertrauens, der Ort, an dem der Kanon gefestigt und verkündet wird. Portale wie der Kritik-Aggregator Rotten Tomatoes versuchen es mit quantitativer Richtungsweisung, die IMDb, längst Zentralorgan aller, die sich mit Film beschäftigen, unterscheidet zwischen internen User-Kommentaren und externen «Kritiker»-Links, die Wikipedia-Einträge zu einzelnen Filmen verfahren ähnlich.

Und hier sind wir dann eben als Kritiker-Persönlichkeiten doch wieder gefordert, ein Vertrauensverhältnis entsteht nach wie vor aufgrund der Gewohnheiten, und letztlich sucht sich jeder und jede eine Lieblings-Anlegestelle auch im Web.

Denn die klassische Gewissheit bleibt: Wenn der Sennhauser einen Film lobt, kann ich ihn mir sparen. Oder umgekehrt.

Anlass für diese Zeilen war übrigens die heutige Kontext-Sendung Feuilleton am Ende – Kulturkritik im Wandel, über den Link portionenweise nach Sparten zu hören oder hier am Stück: