Cannes 17: LES FANTÔMES D’ISMAËL von Arnaud Desplechin

Marion Cottillard und Charlotte Gainsbourg in ‚Les fantômes d’Ismaël‘ von Arnaud Desplechins © xenix

Ismaël (Mathieu Amalric) ist ein Filmemacher, Sylvia (Charlotte Gainsbourg) seine Freundin. Die Astrophysikerin hat sich und Ismaëls kreatives, von Alpträumen und Alkohol durchzogenes Chaos gut im Griff. Bis am Strand plötzlich Ismaëls vor über zwanzig Jahren verschwundene Frau Carlotta (Marion Cotillard) vor ihr steht.

Die Welt von Arnaud Desplechin ist ein zügelloses, ausuferndes Universum. Seine seltsamen Antihelden im aktuellen Film, die Brüder Ismaël und Ivan Dédalus sind konkurrierende, sich bewundernde alter egos des Filmemachers.

In früheren Filmen spielte Mathieu Amalric den Paul Dédalus, mal jünger, dann wieder älter. Jetzt spielt er Ismaël, den Filmemacher, und Louis Garrel, im realen Leben Sohn eines Filmemachers, spielt den Ivan, die Hauptfigur im Film, an dem Ismaël arbeitet.

Arnaud Desplechin kann ganz diszipliniert erzählen, und es ist oft nicht auszumachen wo seine Filme anfangen und das Leben aufhört. Unter anderem darum wurde er in den neunziger Jahren zur Symbolfigur eines neuen französischen Kinos, sein Publikum folgte zunehmend fasziniert seinen Figuren und seiner Biographie, die sich gegenseitig zu durchdringen und überlagern schienen.

Das ging so weit, dass ihn seine langjährige Lieblingsschauspielerin, Muse und Lebenspartnerin Marianne Denicourt verklagte und mit einer Journalistin zusammen ein Buch schrieb über das «Mauvais génie». Desplechin habe intime und private Details aus ihrem Leben als Filmstoff missbraucht, warf sie ihm vor.

Für den Filmemacher war das peinlich und wohl auch etwas entlarvend. Aber seinem Universum hat das bloss weitere Tiefen verliehen. Was könnte es für die intellektuellen cinéphilen Pariser Schöneres geben, als die komplette Durchdringung von Gesellschaftsklatsch und Kunst.

Marion Cottillard und Mathieu Amalric in ‚Les fantômes d’Ismaël‘ von Arnaud Desplechins © xenix

Und so hat Desplechin, der immer wieder in Cannes war mit seinen Filmen, aber noch nie eine Palme gewonnen hat, für sein jüngstes autofiktives Multilevel-Abenteuer wieder mal die Zügel schiessen lassen. Nachdem er letztes Jahr in der Jury sass, läuft er heuer ausser Konkurrenz und dafür zur Eröffnung und symbolisiert mit einem einzigen Film das ganze raffinierte, dekadente, cinéphile, heillos verstrickte, verknüpfte, komplexe, undurchsichtige, romantische, leidenschaftliche System, zu dem «Le festival de Cannes» geworden ist.

Les fantômes d’Ismaël ist ein Film, der so nur in Frankreich entstehen konnte und ausserhalb dieses intellektuellen Bezugssystems auf wenig Verständnis und Gegenliebe stossen dürfte. Desplechin schlägt seine Wurzeln in alles, er verschont keine seiner Vorbilder und künstlerischen Lieben, er holt sich Figurennamen bei James Joyce, Charaktere aus seinem Freundeskreis, Stil und Dramaturgie bei bewunderten Filmemachern von Fellini bis Truffaut.

Desplechin ist ein hungriges Chamäleon, ein Zelig, ein Mensch, der sich Leidenschaften erschreibt und Frauenfiguren erträumt, alles durcheinander mischt und auf einander los lässt. Und dies stets mit Charme und einer Furchtlosigkeit, die an Verzweiflung grenzt.

Es steckt Drama in diesem neuen Film.

Marion Cottillard und Charlotte Gainsbourg in ‚Les fantômes d’Ismaël‘ von Arnaud Desplechins © xenix

Die Frauen: Wenn Sylvia ob der plötzlich aus der Vergangenheit aufgetauchten Konkurrenz Carlotta schier verzweifelt und sich in Eifersucht verzehrt, wenn diese Carlotta enigmatisch lächelnd die fehlenden einundzwanzig Jahre beiseite schiebt und auf das Hier und Jetzt und die nackte körperliche Gegenwart der Marion Cotillard setzt, sind die Männer verloren.

Die Männer: Der von Amalric gespielte Ismaël, lebendig bis zum Überfluss, impulsiv und getrieben. Der von Louis Garrel mit komischer Zurückhaltung als naiver Melancholiker gespielte Ivan, getrieben, vergöttert geliebt und gesteuert von seiner Freundin Arielle / Faunia (Alba Rohrwacher). Und schliesslich Carlottas Vater Bloom (László Szabó), der das Verschwinden der Tochter nie verwunden hat und der nun an ihrem Wiederauftauchen zerbricht.

Und: Les fantômes d’Ismaël ist Komödie, Parodie, Film im Film. Ironisch, gebrochen, roh und geschliffen, Kunst und Handwerk in einem, eine höchst lebendige Zumutung für jenen kleinen Kreis altgedienter Cinéphiler, die ihr Herz noch immer in Frankreich suchen und finden.

Kinostart in der Westschweiz und Frankreich: 18. Mai 2017, Deutschschweiz noch offen

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