Kein Zweifel, für die 70. Ausgabe seines Festivals will Direktor Carlo Chatrian mehr als bloss Gefälligkeit und Unterhaltung. Wenn der heutige Eröffnungsfilm von der französischen Schauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin Noémie Lvovsky das Niveau und den Anspruch definieren soll, dann haben wir spannende Tage vor uns.
Die neunjährige Mathilde lebt mit ihrer fragilen, depressiven Mutter (Lvovsky) und hat, wie es in solchen Konstellationen so ist, einen Teil der elterlichen Verantwortung übernommen. Mathilde lebt mit den Wunderlichkeiten und verlorenen Episoden ihrer Mutter.
Sie nimmt es hin, dass diese beim Schulbesuch im Büro der Lehrerin obsessiv einem Satz nachhängt, auf ein Vogelnest vor dem Fenster verweist und keinen Zweifel daran lässt, dass sie kaum für sich selber sorgen kann: «Je ne suis pas une bonne mère…» vertraut sie der Lehrerin an.
Zum Glück erinnert Mathilde an ihre britische Namensvetterin, das freche Mädchen bei Roald Dahl. Sie ist eine exzellente Schülerin, erzählt ihrer Mutter gerne eben so persönliche wie schauerlich kitschige Märchen über eine Mutter, die ihre Tochter verliert, und am Abend skypet sie hin und wieder mit dem besorgten, liebevollen Vater (Mathieu Amalric).
Aufgrund der Widmung des Films darf man annehmen, dass Noémie Lvovsky einen zumindest teilweise autobiographischen, jedenfalls höchst persönlichen Film gemacht hat. Darauf lässt auch die absolute Sicherheit beim Finden des richtigen Tons zwischen Komik und Tragik, Selbstsicherheit und Verlorenheit bei der neunjährigen schliessen.
Mathilde kann für sich selber sorgen und bis zu einem gewissen Grad auch für ihre zerbrechliche Mutter. Wenn diese nach einem halbverlorenen Tag im Warenhaus durch die nächtlichen Strassen stolpert, im eben gekauften Hochzeitskleid («Ich heirate das Leben», erklärt sie der verdutzten Verkäuferin lächelnd), hat Mathilde sich zwar Sorgen gemacht, aber neu und überraschend ist die Eskapade für sie offenbar nicht. Und die Mutter verspricht auch jedes mal, sich am nächsten Tag bei ihr zu entschuldigen.
Das tut sie zum Beispiel, in dem sie er Tochter einen Waldkauz in einem schönen Weidenkäfig schenkt. Und der Kauz ist nicht nur putzig und kauzig, sondern er beginnt auch bald, Mathilde väterlich zu beraten – wenn auch mit etwas beschränkter Kauz-Perspektive.
Das führt zu hinreissenden und tragischen Szenen. Einerseits ist das Eulentier schon für sich genommen ein Filmstar par excellence. Andererseits entlastet der neue väterliche Freund Mathilde etwas von ihrer Vernunftsteuerung, so dass sie zum Beispiel das Biologie-Skelett aus dem Klosett der Schulde entführt und im Wald anständig begräbt – was nicht nur metaphorisch eben so saukomisch wie himmeltraurig rührend daherkommt.
Und als die Mutter am Weihnachtsabend wieder einmal mit dem Zug verschwunden ist, beginnt Mathilde in der Wohnung zu toben, zündet gar die Vorhänge an, bis der Kauz mit detaillierter Löschanleitung aushilft.
Noémie Lvovskys Film trifft immer und furchtlos den richtigen Ton. Die Figuren sind zugleich realistisch und stellvertretend, die Szenen von purer Verlorenheit ergänzt durch extreme Zuneigung.
Anders als einschlägige Hollywood-Rührstücke wie der schauerliche I am Sam (2001) mit Sean Penn in der Rolle eines geistig behinderten Vaters, setzt Lvovsky nicht einfach auf die alles kittende Kraft der Liebe, sondern räumt dem Schmerz, der Angst und der Verlorenheit genügend Raum ein.
Das Thema der Familie wird übrigens immer wieder auftauchen in den nächsten Tagen hier in Locarno, es scheint, zusammen mit dem Wüten und dem Verdrängen der Zeit, zu einem der tragenden Themen des Festivals zu werden.
Demain et tous les autres jours ist ein starker Film mit vielen sehr mutig inszenierten Szenen zwischen Wut, Komik und Sicherheit. Und mit einem Kauz, der mithin vom ersten Abend an dem Leoparden von Locarno die Herzen des Publikums abspenstig machen dürfte.