Locarno 17: VINTERBRØDRE (Winter Brothers) von Hlynur Pálmason (Wettbewerb)

Elliott Crosset Hove © Masterplan Pictures

Der Film beginnt in der Finsternis, wie die Schöpfungsgeschichte. Aber diese Dunkelheit entpuppt sich bald als Mine, in der harte Männer etwas erziges abbauen, von dem wir nie erfahren, was es eigentlich ist. Auch wenn in der Fabrik oben das Zeug offenbar gemahlen und verarbeitet wird.

Um das Produkt (gedreht wurde in einer Kalkverarbeitungsfabrik) geht es aber auch gar nicht, sondern vor allem um die beiden Brüder, die untertags und auch schon im Transporter am Morgen den schwarz gebrauten Schnaps des jüngeren an die Kollegen verticken. Bis einer der Kollegen plötzlich todkrank im Spital landet und das Schwarzgebräu in den Augen der Kollegen die Schuld daran trägt.

Fortan ist Emil, der jüngere, ein Pariah, ein Ausgestossener in dieser isolierten winterlichen Gemeinschaft von Männern.

Elliott Crosset Hove, Simon Sears © Masterplan Pictures

Eine einzige Frau scheint es in der Umgebung zu geben und sie ist die Freundin des älteren, auch wenn Emil denkt, sie gehöre eigentlich zu ihm.

Lars Mikkelsen © Masterplan Pictures

Und Lars Mikkelsen spielt gewohnt freundlich bedrohlich den Chef der Fabrik, der Emil schliesslich eine Flasche seines eigenen Gebräus einflössen lässt, weil er nicht nur Chemikalien gestohlen hat, sondern eben auch den sterbenden Kollegen auf dem Gewissen haben soll.

Hlynur Pálmason kam in Island zur Welt, hat aber sein filmisches Handwerk in Dänemark gelernt und mit zwei Kurzfilmen unter Beweis gestellt. Vinterbrødre ist nun sein erster Langspielfilm, und er ist im Wettbewerb von Locarno nicht schlecht aufgehoben.

Das ist ein Film der falschen Fährten im reduzierten Leben. Einerseits wirkt alles bestechend einfach. Die lose Arbeitsgemeinschaft der Kumpels, Männer in einer winterlichen, teils unterirdischen Landschaft, die eine junge Frau, die fast gesichtslos und vollständig persönlichkeitslos bleibt, und all die seltsamen Rituale.

Winter Brothers © Masterplan Pictures

Die Mine wirkt archaisch, unbeleuchtet, die Fabrik, von der man nicht weiss, was sie produziert, fast schon kafkaesk. Und der alte Karabiner, den Emil von einem alten Schnapsschuldner als Tauschangebot bekommt, führt einen bald auf die Fährte eines drohenden Amoklaufs.

Emil studiert ein britisches Ausbildungsvideo für Infanterieschützen, das hin und wieder an Monty Python gemahnt. Und sein Bruder fordert ihn auf, weniger «dunkel und brütend» zu sein.

Zu den Ungereimtheiten gehört aber auch, dass der ältere Bruder von der Arbeitergemeinschaft nie beschuldigt und ausgestossen wird, obwohl er sowohl am Chemikalien-Diebstahl wie auch am Schnaps-Verkauf offensichtlich beteiligt war.

Man kann den Film ansehen wie eine nicht ganz durchschaubare anthropologische Studie. Oder als archetypische Brüderfehde um Status und Frau. Oder als Milieustudie in einem reduzierten und isolierten, gleichsam auf ein Modell reduzierten Arbeitsumgebung. Alles trifft ein wenig zu.

Und alles wird dann auch wieder über den Haufen gefilmt. Emil bekommt gegen Ende des Films Szenen, die man eher als Wunschträume zu interpretieren gewillt ist, wäre sein Racheakt am Fabrikchef nicht zugleich so raffiniert wie harm- und letztlich wirkungslos.

Der Brudermord im wütenden, nackten Zweikampf in der Wohnbaracke endet mit einer Wiederbelebung, die fast schon als Auferstehung durchgehen könnte. Und schliesslich führen all die Seitentriebe und Binnengeschichten nie dort hin, wo man es vermuten möchte.

Auch Vinterbrødre spielt mit dem Familienthema, das dieses Jahr am Festival allgegenwärtig wirkt. Aber der Film verweigert jede Eindeutigkeit, gebärdet sich archaisch, ohne es zu sein. Damit erreicht er eine ganz eigene, träumerisch verquere Intensität, die dauernd Bekanntes abruft und doch immer wo anders bleibt. Ein filmisches Enigma mit menschlichen Zügen, durchaus faszinierend.

Filmisch ist das im übrigen sehr befriedigend, das Spiel mit der winterlichen Helle an der Oberfläche und der undurchdringlichen Dunkelheit untertags fährt ein, eben so das musikalische Sounddesign, der Score, der zwischen Wetterstöhnen und Maschinen-Ächzen ganz wundersam anschwillt und wieder verschwindet.