Was für ein hinreissender Film! Was für eine umwerfende Figur!
«You are nothing!» begrüsst Diner-Chef Joe (Barry Shabaka Henley) den neunzigjährigen Lucky (Harry Dean Stanton) am Morgen. «Danke, Du bist auch nichts!» lautet dessen rituelle Antwort.
Zuvor ist schon einiges passiert an diesem Morgen. President Roosevelt ist in die Wüste von Arizona abgehauen. Und Lucky hat sein heimisches Morgenritual absolviert: Aufstehen, Waschen, Yoga-Übungen, Eiskaffee aus dem Kühlschrank.
Ach ja: President Roosevelt ist eine uralte Schildkröte, und ihr von David Lynch gespielter Besitzer Howard ist untröstlich.
«Je älter Du wirst, desto länger lebst Du», erklärt der Hausarzt dem etwas erstaunten Lucky. Der ist zu ihm gekommen, nachdem er am Morgen vor der Kaffeemaschine «auf seinen knochigen Arsch gefallen» ist. Der Arzt kann nichts finden beim topfiten Kettenraucher Lucky – ausser Alter.
Das Alter ist vorgegeben von Schauspielerlegende Harry Dean Stanton. Der Veteran gehört als Haupt- und Nebendarsteller zur ewigen Garde des amerikanischen Kinos. Sein unverkennbares Gesicht und seine schlaksige Gestalt kennen wir aus unzähligen Filmen von The Last Temptation of Christ über Alien bis Wild at Heart.
Harry Dean Stanton war der quintessentielle ‚character actor‘, aber auch der unvergessliche Hauptdarsteller in Wim Wenders‘ Paris, Texas. Und natürlich das Herz des Dokumentarfilms Harry Dean Stanton: Partly Fiction.
Teilweise Fiktion ist nun auch wieder sein Lucky in diesem filmischen Kleinod des Schauspielers John Carroll Lynch. Die beiden Drehbuchautoren Drago Sumonja und Logan Sparks sind alte Freunde von Stanton. Sie haben eine Sammlung von Sprüchen des zuweilen kauzigen, zuweilen altersweisen Mannes zusammengetragen und über das Drehbuch verteilt, das sie dem Mann auf den knochigen Leib geschrieben haben.
Lucky ist ein alter Eigenbrödler, Kriegsveteran, Atheist. Er nimmt sein Alter hin und ist doch erstaunt, was es neben körperlichem Verfall und Abschied und Wehmut noch zu bieten hat. Zumal er seine eigenen Rituale pflegt und mit ihnen eine Art tägliches Weiterbildungsprogramm.
Lucky löst Kreuzworträtsel, aber nicht etwa alleine. Sondern mit Hilfe anderer Gäste im Diner oder einem Freund am roten Telefon. Er schaut Gameshows. Er hat in seiner kleinen Hütte einen permanenten Dictionaire aufgebaut, in dem er immer wieder Definitionen nachschaut, etwa die für ‚Realismus‘. Zunächst geht es darum, festzustellen, ob es das Wort überhaupt gibt.
Später wird seine Bedeutung bedeutungsvoll, wenn Lucky beim abendlichen Besuch im Stammlokal an der Bar verkündet: «Realism is a thing!»
Es ist dieser Realismus, die Akzeptanz des Unausweichlichen mit der Fähigkeit, es hinzunehmen, welche die Figur zunächst definiert. Dazu passt auch das «you are nothing», das im urbanen Slang eines anderen Stammgastes der Bar auch mit dem neapolitanischen Wort «Ugatz» zur Deckung gelangt.
Lucky ist als Film und als Figur ein Wurf, ein popkulturelles Destillat all der Americana, die vom Pioniergeist der Frontier über den Western, den Blues und schliesslich den Rock’n Roll durch unsere Träume und modernen Mythen schweben.
Was Lynch (John Carroll) mit Stanton (Harry Dean) und Lynch (David) hier gelungen ist, trägt die Klänge des halben amerikanischen Eigenmythos mit sich, dessen Echo in den Filmen von Wenders, und die Spiegelung in der Musik von Ry Cooder oder Tom Waits.
Lucky ist ein Film über den Abschied vom Leben und damit über das Leben selbst. Ein rührendes, hinreissendes, sentimental-lakonisches Stück rauhbeiniger, zarter Poesie mitten in einer harschen Landschaft und unter Menschen, die man so nur im Kino finden kann, oder in der eigenen, persönlichen Geschichte.