Locarno 17: AS BOAS MANEIRAS (Good Manners) von Juliana Rojas und Marco Dutra (Wettbewerb)

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Wenn Sie sich gerne auf ein Kinoabenteuer einlassen, ohne die geringste Ahnung zu haben, wohin die Reise geht, dann lesen Sie jetzt noch nicht weiter.

As boas maneiras ist Genrekino im weitesten Sinne. Und auch im engeren. Das heisst, der Film nutzt eine phantastische Prämisse, baut sie aber auch sorgfältig als Überraschung auf.

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Genrefilme sind selten in den Wettbewerben der A-Festivals, oder sie waren es, bis vor kurzem. Eine neue Generation von Filmemachern hat keine Berührungsängste mehr, Leute wie Juliana Rojas und Marco Dutra bringen ihre Autorenschaft und das phantastische Kino, das sie lieben, problemlos zusammen.

Die guten Manieren, die der Titel verspricht, braucht die Hauptfigur Clara. In der ersten Hälfte des Films, weil sie sich als Nanny für das ungeborene Kind der offensichtlich gut situierten Ana in Sao Paulo bewirbt.

Isabél Zuaa (Clara) und Marjorie Estiano © urbandistrib.com

Und in der zweiten Filmhälfte, weil sie den Jungen anstelle der Mutter in ihrer eigenen, eher schäbigen Behausung aufziehen muss, ohne der Nachbarschaft sein Geheimnis preiszugeben. Der kleine Joel verwandelt sich in Vollmondnächten, ohne sich danach daran zu erinnern. Wie schon seine leibliche Mutter, die seine Geburt nicht überlebte.

Der Film könnte somit auch einen viel deutlicheren Titel tragen, etwa «Der kleine Werwolf und wie er in die Welt kam». Das würde den atmosphärisch dichten, ruhig und mit wohltuend wenig Spezialeffekten erzählten zwei Stunden dieses Films aber nur bedingt gerecht.

As boas maneiras ist, wie jeder gute Genrefilm, eine fast dokumentarisch präzise Schilderung von Lebens- und Gesellschaftsumständen. Aus diesen Konstellationen bezieht das Genrekino seine Bodenhaftung, seine Verwurzelung im kollektiven Bewusstsein des Publikums.

Die arme schwarze Pflegerin, die sich bei der reichen weissen Frau im Hochhaus der Gutsituierten bewirbt, wird ihr zur Freundin und schliesslich zur Pflegemutter ihres Kinder, weil die beiden Frauen sich finden, über alle Grenzen hinweg. In einer leidenschaftlichen Sexualität, aber auch im gegenseitigen Verständnis gesellschaftlicher Abhängigkeiten, Manieren und Gepflogenheiten.

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Zugleich liefert die erste Stunde die Stereotype, welche ebenfalls zum Genre gehören. Die weisse Frau entpuppt sich als eine Ausgestossene, eine von Vater und Brüdern fallen gelassene Familienschande, da sie kurz vor ihrer Verlobung in einem One-Night-Stand schwanger wurde und sich danach weigerte, das Kind abzutreiben. Die schwarze Frau dagegen ist nicht nur die lebenserprobte Praktikerin, sondern auch diejenige, die als erste ahnt, dass nicht alles so ist, wie es sich die Freundin wünschen würde. Und anfängt, ihre Schlafwandelepisoden mit den Mondphasen abzugleichen.

Isabél Zuaa (Clara) und Marjorie Estiano © urbandistrib.com

Das ist die Konstellation, die das amerikanische Genrekino schon früh geprägt hat: Die Weissen tappen ahnungslos in die Fallen alter Flüche, die Nicht-Weissen dagegen sind vertraut mit diesen Zwischen- und Anderswelten. Das Schöne an As boas maneiras ist die Selbstverständlichkeit dieses stereotypen Set-Ups und dann, in der zweiten Filmhälfte, die komplette und eben so selbstverständliche Übernahme in eine weitgehend integrierte Gesellschaft.

Miguel Lobo als Joel © urbandistrib.com

In der ist dann nicht mehr der weisse Junge ein Fremdkörper, sondern das, was in den Vollmondnächten aus ihm wird. Und das wird von seiner Pflegemutter sorgfältig unter Verschluss gehalten, im sogenannten «kleinen Schlafzimmer», das auf vertraut schauerliche Weise wieder an einen ganz anderen, zeitgenössischen Horror erinnert.

Juliana Rojas und Marco Dutra © urbandistrib.com