SFT 18: À L’ÉCOLE DES PHILOSOPHES von Fernand Melgar

© Sister Distribution

Erster Schultag – das ist immer ein grosses Ereignis, für Kinder, die sich stolz mit ihrem neuen Schulsack für’s Foto präsentieren. Auch für Albiana, Chloé, Louis, Léon, Kenza kommt der erste Schultag. Sie alle sind etwa 5 Jahre alt. Und an ihrem ersten Schultag sind wohl ihre Eltern nervöser und aufgeregter als die Kinder selber.

Albiana und Chloé haben eine genetisch bedingte Beeinträchtigung, Louis und Léon sind stark autistisch, und Kenza kann – ausser weinen und lachen – sich noch gar nicht artikulieren und ist motorisch stark eingeschränkt.

Dennoch werden all diese Kinder nun zur Schule gehen. Die Lehrerin formuliert das Lernziel des ersten Schuljahres: die Kinder sollen lernen, Schüler zu sein. Zusammensitzen, still sein, wenn ein anderes Kind etwas macht, zuhören, sozial interagieren, überhaupt kommunizieren.

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Zu Beginn des Schuljahres und des Films scheint das eine fast unlösbare Aufgabe zu sein. Zu unterschiedlich scheinen die Behinderungen und die Bedürfnisse dieser Kinder zu sein, zu intensiv der Betreuungsaufwand jedes einzelnen.

Nach und nach aber gibt es winzige Fortschritte, kleine Veränderungen. Léon, der nie gesprochen hat, sagt ab und zu ein Wort. Louis fängt an, auch in der Schule zu essen, Albiana kann eine Treppe runtersteigen, ohne sich gerade herunterzustürzen. Cléo formuliert Fragen, Kenza reagiert auf Musik, auf Kontakt, lacht und sitzt am Ende sogar ohne Hilfe.

Und am Ende des Jahres ist aus den fünf so unterschiedlichen Kindern tatsächlich eine kleine Schulklasse geworden, am Morgen sitzen alle zusammen und singen das Morgenlied mit.

Mit viel Fingerspitzengefühl führt Fernan Melgar seine Kamera, ist manchmal ganz nah bei den Kindern und ihren Betreuerinnen. Und bei den Eltern, die ihre Sorgen, Ängste, ihre schwierigen Geschichten erzählen. Der Film schafft eine sehr intime Nähe zu den Protagonisten, ungefiltert, ohne je Mitleid heischen zu wollen oder – auf der anderen Seite –voyeuristisch zu sein.

Melgar, der sich dem Direct Cinema verpflichtet fühlt, jenem Kino, dessen Kamera immer und unvermittelt dabei ist, dessen Dramaturgie sich nährt aus den Abläufen der gefilmten Vorgänge.

Ihn interessieren Menschen am Rande der Gesellschaft, die er mit seinen Filmen aber mitten in die Gesellschaft herein holt: Flüchtlinge in La Forteresse und Vol Spécial, Menschen ohne ständiges Obdach in L’abri. Immer bringt er das Publikum dazu, über Zuschreibungen und bestehende Zustände nachzudenken. Darüber, was normal ist und was wir als normal erachten.

In diesem Film À l’école des philosophes gibt es einen interessanten Moment dazu: die Mutter von Albiana spricht mit den Lehrerinnen darüber, dass ein Verwandter in der Familie herum erzählt habe, Albiana sei nicht normal. Sie weint dabei und sagt, für sie sei Albiana doch ein ganz normales Kind.

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Melgar lässt die Szene aber nicht so stehen, er schneidet auf die Sitzung der Lehrerinnen, in der sie darüber sprechen, ob das denn wirklich gut sei, dass die Mutter so darauf beharre, ihr Kind sei normal. Denn ein «normaler» Alltag, eine normale Erziehung oder Schulbildung, das ist mit Albiana, die besondere Förderung braucht, nun doch nicht möglich.

Und dennoch gehen diese Kinder «normal» zur Schule, lernen, singen zusammen, essen. Lernen den Schulalltag. Und die Eltern lernen loszulassen, Verantwortung abzugeben, werden belohnt (was zu Beginn noch Bestrafung ist) mit freier Zeit.

Der Film ist dort grossartig, wo er vermitteln kann, wie ganz winzige Fortschritte so ganz riesengross können. Und er berührt am Meisten, wenn ich als Zuschauerin auch nur im Ansatz verstehen kann, was diese Menschen, Lehrerinnen, Eltern leisten, damit diese Kinder soweit es möglich ist in ein soziales, gesellschaftliches Leben inkludiert werden.

Der Vater von Kenza erzählt einmal, wie er und seine Frau vor Glück geweint haben, als Kenza mit zwei Jahren zum ersten Mal überhaupt geweint habe. Es war die erste Gefühlsregung, die sie von ihrem Kind gesehen haben.

Am Ende des ersten Schuljahres und des Films À l’école des philosophes wird Kenza lachen, sich zur Musik mitbewegen und sogar selbständig sitzen können.