Berlinale 18: LA PRIÈRE von Cédric Kahn (Wettbewerb)

Anthony Bajon © Les films du Worso / Carole Bethuel

Kann der Glaube einen Junkie von der Nadel wegbringen? Oder ersetzt er da nicht einfach die eine Droge durch eine andere?

Die meisten der jungen Männer, die sich in diesem katholischen Berghof gegenseitig beim Entzug unterstützen, kommen kaum dazu, sich diese Frage zu stellen. Und die Herausforderung, welche Cédric Kahn hier an sein Publikum richtet, ist eine andere.

Anthony Bajon © Les films du Worso / Carole Bethuel

Wir kommen im Haus an mit dem jungen Thomas, dessen zerschlagenes Gesicht und sein stummes Abwarten beim Hausleiter einen fürsorglichen Redeschwall auslösen.

Er werde nie allein sein hier, einer der anderen sei ihm als „Schutzengel“ zugeteilt. Es gebe nur den harten Entzug, ohne Hilfsmittel, dafür aber auch ohne ein Urteil von niemandem.

Anthony Bajon (Mitte) in ‚La prière‘ © Les films du Worso / Carole Bethuel

Diese Versprechen werden eingehalten, die jungen Männer helfen Thomas. Es wird gesungen, gebetet und gearbeitet. Vor allem aber haben alle das gleiche durchgemacht, die gleichen Regeln gebrochen.

Selbst als Thomas nach einiger Zeit den Entzug geschafft hat, aber wenigstens mal fünf Minuten allein sein möchte, führt das nicht zu „Einzelhaft“ wie er meint, sondern zu ein paar Tagen allein mit seinem „Schutzengel“. So zumindest die Sprachregelung.

Denn das ist die zweite Sollbruchstelle in diesem Film, neben der Betonung der Kraft von Gebet und Glauben. Wir sollen ja eben nicht, wir als Zuschauer. Wir sollen offensichtlich zweifeln, an den Methoden, am System, an seiner angeblichen Zwanglosigkeit.

Das macht La prière zu einem harten Stück Arbeit nicht nur für den zunächst ungläubigen Thomas, sondern auch für uns skeptische Zaungäste.

Cédric Kahn kombiniert das alte Thema des Glaubens und Zweifelns mit den neuen französischen Didaktik-Filmen, wie sie seit Laurent Cantets Entre les murs recht zahlreich geworden sind.

Dabei erzählt der Film sehr realistisch von den Nöten des jungen Thomas, von seinem ersten Ausbruchsversuch, der von der Tochter jenes Bauernpaars gestoppt wird, welches das Haus mit Lebensmitteln versorgt – und jede Menge ähnlicher Abbrechersituationen schon erlebt hat.

‚La prière‘ © Les films du Worso / Carole Bethuel

Dabei spielt Kahn geschickt mit den Abwehrreflexen seines Publikums. Zur Bewunderung für die Geduld der Heimbewohner mit den Neuankömmlingen gesellt sich das Unbehagen über mechanisches Beten und rituelles um Entschuldigung bitten bei der Gemeinschaft.

Und eben wenn man innerlich über einen Rosenkranz in der tätowierten Hand eines Ex-Junkies gelächelt hat, packt einen der Gesang und das Gitarrengeschrumme der jungen Gemeinschaft mit einer Sentimentalität, mit der man nicht gerechnet hätte.

Die Qualität von La prière liegt in seiner Ambivalenz, die mit jeder Wendung neu aufgeladen wird – bis hin zum nachvollziehbaren kleinen Wunder, welches Thomas‘ Glauben endlich ermöglicht, den Ohrfeigen von Soeur Myriam (Hanna Schygulla), die seinen Selbstbetrug erkennt, und den Ermahnungen des Pfarrers, der Thomas daran erinnert, worauf er alles verzichten würde, sollte er der gefühlten Berufung wirklich folgen.

Hanna Schygulla (mit Haube) © Les films du Worso / Carole Bethuel

Es ist keine kleine Leistung, die Kraft der Gemeinschaft und des gemeinsamen Glaubens dermassen transparent durchzuspielen, ohne dabei manipulativer zu werden, als nötig.

Insofern ist La prière einer jener Filme, die uns auf uns selber zurückwerfen. Was nicht immer angenehm ist.