Den Bechdel-Test würde dieser Film zumindest theoretisch mit fliegenden Fahnen bestehen. Er dreht sich fast vollständig um die 68-jährige Nojet (Léonore Ekstrand), ein lebenslanges Partygirl, das, vom Tod des reichen Vaters überrascht, plötzlich in der schwedischen Wirklichkeit landet.
Sie hat eine Mietskaserne geerbt in Stockholms Innenstadt. Noch vor der Kremation des Vaters erkundigt sie sich bei dessen altem Freund und Anwalt, wie es um die Verkaufsmöglichkeiten stehe. Eigentlich möchte sie nichts lieber, als auf ihre Sonneninsel zurückkehren.
Wer nun allerdings eine Sozialgeschichte oder einen Wirtschaftskrimi erwartet, liegt zwar nicht falsch, aber völlig daneben. Denn nicht nur der Look dieses Films ist vollkommen unerwartet, auch seine Dramaturgie und Inszenierung laufen jeder Erwartungshaltung zuwider.
Die ersten Einstellungen zeigen Nojet beim Friseur, leicht schräg von unten angeschnitten über die Schulter, während er ihr die Haare föhnt und sich mit ihr über den Irrsinn der Wohnungspreisentwicklungen unterhält.
Das wirkt realistisch, fast reportageartig. Dann aber zieht sich diese merkwürdige Perspektive weiter, die Kamera scheint immer wieder direkt über Schultern zu blicken, an der Backe der Figuren, vor allem der Hauptfigur entlang, und allmählich kommt einem dieser seltsam beteiligte, gesteuerte, subjektive Blick bekannt vor: Es ist eine Game-Perspektive.
Ist diese Erkenntnis erst mal eingerastet, folgt die teilweise chaotische, stets semi-subjektive Erlebniswelt dieses Films eigentlich durchaus genau dieser Binnen-Logik.
Denn Nojet bleibt die Lebedame, das Party-Girl, auch wenn sie nun der Reihe nach die Rollen der Vermieterin, der Hausbesitzerin, der gewieften Verkäuferin und der Anwältin in eigener Sache anzunehmen versucht.
Sie stösst auf ein ziemliches Chaos, ihr Halbbruder und ihr Neffe haben das riesige Gebäude nicht nur schlecht verwaltet, sie haben auch an illegalen Untermietverträgen verdient und gleichzeitig die Verkäuflichkeit der Immobilie torpediert. Denn wenn die Mieter nicht rauszukriegen sind, wird niemand den Kasten übernehmen.
Und wenn nicht alle Wohnungen transparent vermietet sind, können auch die bestehenden Mieter keine Genossenschaft bilden und das Haus übernehmen.
Der Blick auf die Figuren, den alten Anwalt, der zugleich Musik-Produzent und Lebemann zu sein scheint, auf den sprachbehinderten Halbbruder und den widerlich versoffenen Neffen, kippt von einer Groteske in die nächste, der Soundtrack verstärkt den Eindruck, man falle von einem Game-Level in den nächsten, ohne den Weg genau reproduzieren zu können.
Schliesslich wird Nojet nicht nur zur Rächerin und Kämpferin in eigener Sache, sondern zur asozialen Terroristin – vielleicht.
Axel Petersén und Måns Månsson jagen uns durch unbestreitbar originelle Bildwelten, auch wenn Clip-Ästhetik und Comic-Framing manchmal etwas überzogen wirken. Ob aber mehr dran ist an dieser betäubend lauten und wilden Geschichte, wird nicht so ganz klar.
Die Erinnerung in ein paar Wochen wird zeigen, was bleibt. Einzigartig ist das durchaus, originell und überraschend auch. Und ein paar Momente haben Klassikerpotential. Aber das passiert bei Collagen auch fast automatisch, schliesslich kommen die Eindrücke und Bilderfetzen ja nicht aus dem Nichts.
Nojet auf jeden Fall ist eine neue Figur. Eine alternde Paris Hilton aus der Solariumshölle.