Berlinale 18: UTØYA von Erik Poppe (Wettbewerb)

Andrea Berntzen © Agnete Brun

Zweiundsiebzig Minuten Todesangst, blinde Panik, Rennen und Verzweiflung, ohne einen Schnitt, ohne mehr als einen flüchtigen, entfernten Blick auf eine Gestalt mit einem Gewehr auf einer Klippe: Was macht das mit uns im Kinosaal?

Um das Massaker von 2011 an den Jugendlichen im Sommercamp auf der norwegischen Insel Utøya als Spielfilm zu fassen zu bekommen, muss ein Konzept erst einmal alle Untiefen, Verletzungen, moralischen und ethischen Bedenken aus dem Weg räumen.

Autor und Regisseur Erik Poppe hat sich für diesen gezwungenen, pseudosubjektiven Blick entschieden, der von langen, bewegten Kameraeinstellungen ausgeht. Die Unmöglichkeit, sich zeitlich, räumlich oder wissensmässig aus der Sphäre der erlebenden Hauptperson zu entfernen, ist schon manchem solchen Experiment zum Verhängnis geworden.

Für Utøya von Erik Poppe ist dieser geführte, gefangene, gezwungene Blick genau richtig.

Nach ein paar dokumentarischen Originalaufnahmen vom vorangehenden Bombenanschlag in Oslo an diesem gleichen 22. Juli 2011 sind wir auf der Insel, eine junge Frau, von der wir später erfahren, dass sie Kaja heisst, blickt direkt in die Kamera und sagt: «Das wirst Du nie verstehen.»

Was zunächst wie eine Publikumsansprache wirkt, entpuppt sich als Telefonat Kajas mit ihrer Mutter. Sie hat ihr Mobiltelefon in der Hand, einen Knopf im Ohr, und hat von ihrer Mutter offenbar eben von der Explosion in Oslo erfahren. Sie verspricht, ihrer jüngeren Schwester, die ihre Anrufe nicht beantwortet, einen Gruß von der Mutter auszurichten.

Die Mutter solle sich keine Sorgen machen: «Wir sind auf einer Insel, dem sichersten Ort der Welt.» Dann macht sie sich auf den Weg zwischen den hunderten von Zelten durch, um ihre Schwester zu suchen.

In wenigen Minuten lernen wir Kaja kennen, ihre frustrierte jüngere Schwester, ein paar andere der Jugendlichen und Kajas soziale Ader, ihre Freude an der direkten Debatte, zum Beispiel mit Petter, der die Bombe in Oslo in Verbindung bringt mit dem «Friedenseinsatz» norwegischer Truppen in Afghanistan. Es sei blöd, ohne jede Informationsgrundlage einfach über Terroristen zu spekulieren, findet Kaja.

Dann fallen die ersten Schüsse, junge Leute kommen aus dem Wald gerannt, man sucht erst mal Schutz im der zentralen Lagerbaracke. Aber niemand weiss genau, was los ist. Es werde geschossen. Von wem und warum kann keiner sagen.

Vom ersten Schuss bis zum Ende des Films dauert es genau die 72 Minuten, welche das Massaker auf der Insel offenbar gedauert hat. In dieser Zeit trifft Kaja auf andere verängstigte Kinder und Jugendliche, versucht, ihre Schwester zu finden, versucht, einen in Panik erstarrten kleinen Jungen zur Flucht in den Wald zu bewegen, trifft auf ein angeschossenes Mädchen und bleibt bei ihm, bis es tot ist.

Dem Film gelingt es, die Panik und das Grauen unmittelbar spürbar zu machen. Dass wir als Publikum wissen, dass es sich nur um einen einzigen, systematisch tötenden Rechtsextremen handelt, verstärkt allenfalls noch das Gefühl der Ohnmacht, wenn Kaja und alle um sie herum nicht die geringste Möglichkeit haben, sich zu orientieren. Sie wissen nicht, wer warum auf sie schiesst, sie wissen nicht, aus welcher Richtung und wie viele Mörder da sind. An einer Stelle behauptet gar jemand, es handle sich um Polizisten. Panische Anrufe bei Eltern und Polizeinotruf ergeben keine brauchbaren Informationen, bald taucht immer wieder die Frage auf: Warum kommt niemand, warum hilft uns hier keiner?

Utøya von Erik Poppe (Troubled Water, 2009) leistet auf den ersten Blick nicht viel mehr, als das Durchbrechen unserer Abstraktionsschranken. Wir haben mit Entsetzen von den 69 Morden gelesen und gehört, von den unzähligen Verletzten und Traumatisierten. Und doch bleibt von der Monstrosität vor sieben Jahren konkret nur eines im Gedächtnis: Der Name des Mörders.

Genau das dreht der Film aber um. Der Mann wird nie gezeigt, es kommt zu keiner direkten Konfrontation, wir sind immer bei den Gejagten. Einige der Jugendlichen lernen wir kennen, vor allem natürlich Kaja, aber auch ein paar andere, nur andeutungsweise.

Andrea Berntzen © Agnete Brun

Und der Film macht klar, dass es sich da nicht um einen Kampf handelt. Das sind keine Hunger Games, Andrea Berntzen ist keine Jennifer Lawrence, Kaja keine wild entschlossene Katniss, die den Kampf gegen das Böse aufnimmt.

Utøya ist ein antiheroisches Denkmal, eine Möglichkeit, die uns unbekannten Opfer zu Bekannten zu machen, Mitgefühl zu wecken. Das ist nicht viel. Aber mehr, als wir im Alltag selber leisten.

Regisseur Erik Poppe © Erik Burås

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