Berlinale 18: MEIN BRUDER HEISST ROBERT UND IST EIN IDIOT von Philip Gröning (Wettbewerb)

Josef Mattes, Julia Zange © 2017 Philip Gröning

Viel deutscher als dieses Monstrum kann ein Film nicht sein. 174 Minuten Philosophie und Frühlingserwachen, mit tödlicher Konsequenz. Es gibt hier kein unschuldiges Denken, genau so wenig wie ein unschuldiges Spielen.

Dabei fängt das sommerlich leicht an, in der Wiese, vor dem Kornfeld, neben der Tankstelle. Robert und seine Zwillingsschwester Elena liegen hier im Gras, er soll ihr helfen, sich auf das Philosophie-Abitur am Montag vorzubereiten.

Josef Mattes, Julia Zange © 2017 Philip Gröning

Bier und Brentano, Heidegger und das Sein und die Zeit. Elena entlöhnt Robert mit Bier, das sie zwischendurch im Tankstellenshop holt. Sie beklagt sich ein wenig darüber, dass Robert sein Abi vermasselt habe und sie nun alleine zum Studium weg soll. Und sie löchert ihn über seine Nacht bei ihrer Freundin Cecilia.

Schliesslich wettet sie in ihrer offensichtlichen Eifersucht, dass sie noch dieses Wochenende mit jemandem vögeln werde. Sollte es ihr nicht gelingen, bekommt Robert den VW Golf, den sie zum Abi bekommen soll.

Josef Mattes, Julia Zange © 2017 Philip Gröning

Die Geschwister haben ihre Rituale, ihre Zänkereien und ihre Symbiose, die nach Finalisierung schreit. Wenn Robert über den Sinn der Zeit doziert und Elena nach allen Regeln der philosophischen Kunst mal kontert, mal nicht, kommen bald einmal die Erinnerungen hoch an die verbotene Geschwisterliebe in Fredi M. Murers Schweizer Klassiker Höhenfeuer.

Der Film schreit «heiss», Brüderlein und Schwesterlein geben sich kühl, so lange sie können. Dann muss aber vor allem sie dann doch wieder laut schreien und mit einem Lippenstift spielen.

Man möchte die zwei ins Hotel New Hampshire (1984) schicken, Tony Richardsons Verfilmung des Romans von John Irving. Dort holt Jodie Fosters Frannie ihren sich verzehrenden, von Rob Lowe gespielten Bruder für einen einzigen Tag in ihr Bett, auf dass es dann einmal gut sei.

Dabei ist das philosophische Geplänkel der beiden auf einem anregenden Niveau und meist weit entfernt von seminarähnlichen Verläufen, dafür sprunghaft und verspielt. Aber es ist vor allem viel davon.

Josef Mattes, Julia Zange © 2017 Philip Gröning

Selbst wenn die Handlungseinfälle immer wieder eine ironische Brechung ergeben, wenn Begriffe wie Hoffnung und Zeit und Bier sich verschränken, wenn Robert praktische Beispiele inszeniert und Elena dabei immer noch einen provokativen Schritt weiter geht: Das Wechselbad zwischen behauptetem Leben und behauptetem Denken strengt an im Kinosaal.

Eine gefangene Heuschrecke in einer Zigarettenschachtel illustriert immer mal wieder die in der Gegenwart zukunft- und vergangenheitslos existierende Kreatur. Sie versucht einfach, aus der Schachtel rauszukommen. Genau so wie sie später auf dem Teich keine Sekunde daran denkt, zu ertrinken, als die Geschwister die Schachtel schwimmen lassen. Das Insekt bleibt sitzen bis zum Untergang und schwimmt dann überraschend und unerwartet zu den rettenden Grashalmen.

Josef Mattes, Julia Zange © 2017 Philip Gröning

Dass die zwei den eigentlich erwarteten Tod des Tieres in Kauf nehmen, ist unter anderem ein Verweis auf härtere Konsequenzen, die diesem Versuchsdenken entspringen, auch wenn Elena einen Moment in die Gegenwart stürzt und von Robert verlangt: «Hol sie da raus!»

Später wird sie diejenige sein, welche an der Idee des konsequenzlosen Spielens festhält, wenn das schon lange keine empirische Grundlage mehr hat.

Gemäss Abspann hat die Berner Schauspielerin Sabine Timoteo mit Gröning an dem Buch gearbeitet. Sie war die Hauptdarstellerin in seinem L’amour, l’argent, l’amour von 2000, dem Film, der für beide den Durchbruch bedeutete.

Die Rollenverteilung zwischen den beiden Geschwistern ist zumindest provokativ. Robert ist auf der philosophischen Ebene der Lehrer, obwohl er offenbar sein Abi verbockt hat. Aber im direkten Austausch ist Elena meist diejenige die provoziert, intellektuell, aber auch sexuell, bis hin zu einer im heutigen aufgeladenen #metoo Umfeld ziemlich provokativen Vergewaltigung des befreundeten Tankstellenwartes durch das Mädchen.

Insofern ist der Verweis auf Wedekinds «Frühlings Erwachen» zu Beginn dieses Textes nicht nur assoziativ gemeint, sexuelle Provokation und unterdrücktes Begehren sind auch in diesem Film Energielieferanten.

Alerdings erinnert die zunehmend gewaltbereite Selbstbezogenheit der beiden Geschwister in einem deutschen Film unwillkürlich auch an die Terror-Welle der Siebziger Jahre. Und das ist so inszeniert, dass niemand von Zufall reden würde.

Mein Bruder heisst Robert und ist ein Idiot von Philip Gröning wird dieser Tage zumindest im Berlinale-Umfeld einiges an kontroversen Diskussionen auslösen. Gröning hat sich entschieden, gleich auf mehreren Ebenen zu provozieren. Mit Länge, mit Philosophie, mit Sex und Gewalt.

Unbedacht wirkt nichts davon, pubertär schon gar nicht. Das ist ein sehr erwachsener Film über eher junge Menschen und ihre junge, mehr von Theorie und Gefühl als Erfahrung getriebene Radikalität.

Philip Gröning © 2016 Thomas Longo

Kommentar verfassen