Zwei Schwestern, die keine sind, ein schweigsamer Antiheld in der Falle und viel Zürcher Lokalkolorit. Strangers eben, Fremde. Das ist die Hommage an den Film noir, der erste Langspielfilm von Lorenz Suter. Ein Film voller Stimmung.
Wer kennt den Plot von The Big Sleep? Ja, genau. Der Film von 1946, mit Humphrey Bogart und Lauren Bacall, Howard Hawks‘ Verfilmung des quintessentiellen Romans von Raymond Chandler.
Bogey als einsamer, schweigsamer, aufrechter, zynischer Privatdetektiv Philip Marlow. Lauren Bacall als mysteriöse Vivien Rutledge und Martha Vickers in der Rolle ihrer verantwortungslosen jüngeren Schwester Carmen.
Kaum jemand könnte die Geschichte sauber nacherzählen. Viel zu komplex, viel zu widersprüchlich. Viel zu noir.
Aber wir kennen die Elemente. Die verführerische ältere Schwester: femme fatale oder ehrliche Haut? Die wilde kleine Schwester: Lebenslustig oder verantwortungslos? Der Privatdetektiv: Schweigsam, melancholisch, einsam. Sein innerer Monolog, die Rekapitulation der Geschehnisse aus seiner Sicht. Das alles ist zum geliebten Klischee geworden, sorgfältig fixiert zum Beispiel in den haarsträubenden Fällen des Philip Maloney, der langlebigsten Schweizer Radioserie.
Und nun liefert uns der Zürcher Lorenz Suter all das in einer stimmigen, witzigen, verwirrenden Mélange mit seinem Spielfilmerstling Strangers.
Sein Marlow heisst Tamás (Nicolas Batthyany). Er ist schweigsam, einsam und eine «Gun for hire», das heisst, er verfasst gegen Bezahlung Seminar- und Doktorarbeiten. Qualität ist Ehrensache, vollständige Bezahlung in Bar bei Übergabe ebenfalls.
Allerdings wird er dann doch einmal weich, als eine Studentin nicht die ganze Summe zusammenbekommt und stattdessen anbietet, für ihn zu kochen. Er schenkt ihr die Arbeit zum Geburtstag, dreht sich brüsk um und geht davon.
Tamás versteht Deutsch, spricht es wohl auch. Aber er denkt und spricht – im klassischen Ich-Erzähler-Off-Monolog, wie auch in den wenigen Szenen, in denen er tatsächlich spricht – ausschliesslich Englisch. Deutsch sei eine «silly language», findet er.
In seiner Wohnung taucht immer wieder die schöne Assistenzärztin Norika (Jeanne Devos) auf, übernachtet offenbar auch bei ihm. Sie hätten zusammengelebt, erinnert sich Tamás zu Beginn des Films, beim Verhör auf dem Polizeiposten. Aber nicht als Paar.
Auf dem Posten ist er wohl, weil Norika verschwunden ist. Und ihre kleine Wahlschwester Annika (Marina Guerrini) ist überzeugt, da stecke Tamás dahinter. Was vielleicht auch damit zu tun hat, dass sie selber eine Affäre mit dem verstockten Beinah-Lover ihrer Schwester initiiert hatte.
Tamás findet sich jedenfalls als Angeklagter wieder in einem seltsamen Fall. Selbst als Norika wiederauftaucht, sind die Vorwürfe nicht vom Tisch. Gestalkt habe er die Schwestern. Schliesslich darf er sich Norika ganz offiziell nicht mehr nähern, muss sich eine Wohnung in einem anderen Zürcher Kreis suchen.
Strangers ist ein Film der Stimmungen und der fliessenden Wahrnehmungen. Tamás ist kein zuverlässiger Erzähler, zumal er bald an sich selber und seiner Wahrnehmung zu zweifeln beginnt. Und Lorenz Suter sorgt dafür, dass es auch seinem Kinopublikum nicht besser ergeht.
Hat sich Tamás die dauernde Präsenz der schönen Norika in seiner Wohnung bloss gewünscht, eingebildet? Ist das überhaupt seine Wohnung? Ist es nicht eher tatsächlich die von Norika? Eine Sequenz gegen Schluss des Films zeigt den Mann unten in der Gasse und oben in der Wohnung bei der Frau.
Strangers ist ein Film voller Zirkelschlüsse, voll seltsamer Symmetrien. Entstanden ist das Ganze über drei Jahre hinweg, mit kleinem Budget und immer aus dem Leben der Protagonisten heraus weiter konstruiert.
Als Lorenz Suter die Wohnung gekündigt wurde, bekam eben auch sein Antiheld die Kündigung und musste sich eine neue suchen. Annika-Darstellerin Marina Guerrini ist die Freundin des Regisseurs. Und auch alle anderen Beteiligten waren aus Freundschaft und Begeisterung bei dem immer wieder neu ausgerichteten Langzeitprojekt mit dabei.
So ist ein Film voller Stimmung entstanden, eine traumhaft verwirrende Odyssee durch ein tägliches und vor allem nächtliches Zürich, mit Figuren, die man zu kennen glaubt und die dann doch wieder fremd wirken.
Die dauernde Hinterfragung der Wahrnehmung, die Möglichkeit, dass Tamás vielleicht tatsächlich der Stalker sein könnte, zu dem ihn die Schwestern machen – oder eben nicht: Das alles ist wunderbar fliessend inszeniert und montiert. Sounddesign und Musik (auch an den Themen der klassischen serie noir angelehnt) tragen dazu ebenso bei wie der ungewohnte Blick auf Zürcher Altststadt-Wohnungen, einen Coiffeur-Salon und andere alltägliche Orte.
Wenn man Strangers den Erstling anmerkt, dann allenfalls daran, dass das Verwirrspiel nicht so absolut souverän inszeniert ist, dass man sich als Zuschauer der Regie völlig überlassen würde. Oder anders gesagt: So lange ich mich frage, ob ich etwas vielleicht falsch verstanden habe, oder ob der Film etwas nicht deutlich genug gemacht habe, springt die traumwandlerische Stimmung hin und wieder ganz kurz aus der Schiene.
Aber wie etwa auch Cyril Schäublins Dene wo’s guet geit wagt Strangers das ganz andere, den an der Kinogeschichte geschulten und gerade darum völlig eigenständigen, originellen, packenden Zugang zum Zuschauer und der Zuschauerin über Herz und Kopf und Traum und Erinnerung zugleich.
Das ist Kino.