Als Jia Zhang-Ke vor fünf Jahren mit A Touch of Sin in Cannes am Wettbewerb teilnahm, wirkte der episodisch aufgebaute Film wie eine Abkehr von seinem bisherigen Werk. Zeitgenössischer, bissiger, satirisch gar.
Aber nun macht er einen Schritt vorwärts und zugleich einen zurück, im besten Sinn. Zhao Tao, seine Schauspielerin in Unknown Pleasures von 2002 spielte damals eine Frau namens Qiao Qiao. Und 2006 in Still Life, der vor dem Hintergrund des wachsenden Drei-Schluchten-Staudamms spielte, war sie Shen Hong. Nun hat er die zwei Frauenfiguren und ihre Geschichten kombiniert und erzählt sie über etliche Jahre hinweg mit einer anderen Perspektive.
Der Film setzt 2001 ein. Qiao ist die Freundin von Guo Bin (Liao Fan), dem starken Mann der lokalen Jianghu, einer mafiaähnlichen, traditionsreichen (und offenbar aussterbenden) Gruppierung. Die beiden sind sozusagen das lokale Königspaar. Sie managen die Spiel- und Tanzhalle, sorgen in der Nachbarschaft und für den einen oder anderen Bisnis-Mann für Ordnung, und Qiao sorgt für ihren alternden Vater, Mitglied der Kohlenarbeiter-Gewerkschaft, die langsam im Verschwinden begriffen ist. Zu tausenden werden die Arbeiter disloziert, in andere Gegenden, zu neuen Projekten. Die Provinz liegt im Sterben.
Bin und Qiao beherrschen das Spiel mit dem Gleichgewicht der Macht. Als er von zwei Halbstarken irrtümlich mit einer Eisenstange traktiert wird, weil sie ihn für einen anderen halten, sind die zwei schnell gefasst. Aber statt sie spitalreif zu prügeln oder gar umzubringen, lässt Bin sie laufen. Und hat fortan zwei loyale Gangmitglieder mehr.
Diese Szenen, die etwa die ersten fünfzig Minuten des Films ausmachen, sind überraschend humorvoll. Bin und Qiao sind ein souveränes Paar, er ist sich klar darüber, dass die Balance zwischen dem traditionellen Jianghu-Gangstertum und dem Staat äusserst fragil ist. Sie ist gar überzeugt, dass Jianghu keine Zukunft haben wird.
Aber dann geht alles plötzlich sehr schnell, Qiao landet für fünf Jahre im Gefängnis, Bin für eines. Und als sie wieder herauskommt, wartet er nicht etwa auf sie, wie sie erwartet hätte, sondern ist weitergezogen, ins Gebiet des Drei-Schluchten-Staudamms. Damit nimmt der zweite Teil des Films einen Teil von Still Life wieder auf.
Das verblüffende dabei ist der Tonwechsel. Nach dem hinreissenden ersten Teil, der im Jahr 2001 spielt, mit YMCA-Disco und grosser Ausgelassenheit, herrscht nun in 2006 ein neues China und Qiaos Reise in Richtung Stausee ist eine der Trauer und der Schwierigkeiten.
Und der Gewitztheit. Denn die Frau wirkt nun wie eine unfreiwillige, aber entschlossene feministische Heldin. Als sie in einer Stadt ein paar Männer eine Frau bedrängen sieht, schlägt sie sie mit einer Mineralwasserflasche in die Flucht, bloss um dann gleich ihrerseits auf die Frau loszugehen. Denn diese hat ihr auf dem Flussschiff das ganze Geld und die ID gestohlen.
Die ID bekommt sie zurück, das Geld organisiert sie sich anders. In einem Hotel stellt sie Männer und gibt sich als ältere Schwester einer Frau aus, die eben abtreiben musste… und schon bei zweiten funktioniert der Trick und er kauft sich mit einer ordentlichen Summe aus der Verantwortung.
Aber nun wird der Film immer überraschender, die Figur von Qiao ist zugleich stärker und schwächer als man es erwarten würde und die drei finalen Segmente des Films fast schon wieder eigenständige Kinostücke.
Dass der ganze Filmkomplex sich über etwa sechzehn Jahre hinzieht, sorgt dafür, dass man den gesellschaftlichen und strukturellen Wandel in China deutlich zu spüren bekommt.
Der Discoknaller YMCA taucht zwar noch einmal auf, und auch ein sentimentaler Schlager über verratene Liebe spielt noch eine ziemlich aufdringliche Rolle. Aber am Ende stellt sich nicht nur bei den Figuren sondern auch beim Publikum eine Art Nostalgie für die Anfänge im 2001 ein.
Konnte einen bei A Touch of Sin hin und wieder der Verdacht beschleichen, Jia Zhang-Ke tische einem gezielt alle China-Klischees von der verrohenden Makro-Kapitalismus-Gesellschaft auf, passiert nun fast das Gegenteil: Die Figuren haben eine beschämende Menschlichkeit, reagieren immer wieder anders, als man es ihnen zuschreiben würde.
Die Beziehung zwischen Qiao und Bin ist – zumindest hier im Kontext des aktuellen Wettbewerbs von Cannes – ein Komplementärstück zu jener von Wiktor und Zula in Pawlikowskis Cold War.
Das macht diesen Film einmal mehr zu einem eigenständigen und zugleich integralen Teil des Gesamtwerks von Jia Zhang-Ke. Und zu einem guten Einstiegspunkt für alle, die ihn noch nicht kennen.
Wer einen weiteren Grund braucht, um sich diesen Film anzusehen: Zhao Tao. Sie ist unglaublich.