Cannes 18: LAZZARO FELICE von Alice Rohrwacher (Wettbewerb)

Adriano Tardiolo © filmcoopi

Vor vier Jahren schon hat Alice Rohrwacher das ländliche Italien durch einen Märchenspiegel betrachtet, mit Le meraviglie. Das war noch ironisch gebrochen über eine Fernsehshow. Ihr jüngster Wettbewerbsbeitrag hier in Cannes dreht das alles noch etwas weiter.

Lazzaro felice ist märchenhaft und zeitübergreifend, eine laizistische Heiligenlegende, kombiniert mit einer retrostalgischen und später brandaktuellen Kapitalismussatire. Vor allem aber: Überbordend italienisch, wie schon lange kein Film mehr aus dem Land.

Das Landgut «l’inviolata» liegt irgendwo im südlichen Italien in einer nicht so genau fassbaren, sehr nahen Vergangenheit. Auf dem Gut leben und arbeiten Frauen und Männer und Kinder für die Marquisa Alfonsina de Luna (Nicoletta Braschi). Sie betreibt das Gut und die dazugehörige Tabakplantage jenseits eines Flusses und einer zerstörten Brücke, wie ein mittelalterliches Feudalsystem, die Arbeiter liefern den grössten Teil der Ernte ab, Lieferungen werden ihnen verrechnet und wenn der Gutsverwalter mit Rechnen fertig ist, haben die Menschen stets noch mehr Schulden.

Tancredi, der Sohn der Marquise, findet das System einigermassen ungerecht und seine Mutter schrecklich. Aber, wie sie ihm erklärt: Ich beute diese Leute aus, und sie sich untereinander und so lange sie es nicht wissen, sind sie zufrieden.

Das gilt auf jeden Fall für den jungen Lazzaro, der von allen auf dem Hof für jede Aufgabe eingesetzt wird. Er ist grosszügig und zuvorkommend, ehrlich bis zur Naivität, hilfsbereit und gutgläubig. Tancredi meint, Lazzaro sei am Ende der Kette, der einzige, der nicht ausbeute, sondern nur ausgebeutet werde.

Und auch Tancredi nutzt ihn aus, macht ihn zu seinem Freund und – romantisierend und zynisch zugleich – zu seinem möglichen Halbbruder. Habe doch sein Vater, der Frauenheld, ihn bestimmt mit einer der Arbeiterinnen unten am Fluss gezeugt.

Luca Chikovani, Adriano Tardiolo © filmcoopi

Alice Rohrwacher zeigt das Leben auf dem Gutshof einerseits als leichte Satire im Stil der Don- Camillo-Filme, vor allem aber als ländliche Idylle mit lauter liebenswert verschrobenen Menschen in einer eingeschworenen Schicksalsgemeinschaft.

Es gibt alte Autos und ein Mofa, Tancredi hat ein Mobiltelefon der allerersten Klappgeneration (aber keinen Empfang) und alles nimmt seinen Lauf, auch wenn die Marquise heimlich fürchtet, die Menschen könnten früher oder später merken, dass die Zeiten theoretisch keine faktische Leibeigenschaft mehr zulassen. Aber noch glauben sie alle daran, dass der Fluss unüberquerbar sei.

Nach einem Absturz von Lazzaro bleibt dieser am Fuss des Berges liegen, während auf dem Gut die Erkenntnis eindringt, in Gestalt der Carabinieri. Lazzaro hat derweil eine Traumbegegnung mit dem Wolf.

Und der Film springt in der Zeit, Sergi Lopez taucht auf, der einstige Gutsverwalter versteigert Tagesjobs an Asylsuchende und Migranten, den Job bekommt jeweils die Truppe, die den tiefsten Lohn «ersteigert». Und Lazzaro wacht auf am Fusse des Berges, ohne zu merken, dass Jahre vergangen sind. Seine erneute Begegnung mit den bekannten Menschen verläuft wieder anders für alle.

Lazzaro felice ist märchenhaft verspielt, ein bisschen oeko-esoterisch, ein wenig satirisch und ausufernd figurenreich fantasievoll.

Alice Rohrwacher hat wieder auf Super 16mm gedreht, also stilgerecht und unzeitgemäss auf Film. Die Ausstattung ist detailreich und liebevoll, die Dialoge schnell und vielfältig. Und vor allem in den Szenen mit vielen Figuren gleichzeitig hat die Regisseurin eine Meisterschaft entwickelt, das gleichzeitig natürlich unkoordiniert und perfekt abgestimmt ablaufen zu lassen. Die Eingangssequenz mit einem Schlafzimmer voller Mädchen, die sich über eine Serenade der Männer vor dem Fenster freuen und mokieren, ist schlich hinreissend.

Man kann behaupten, dass Lazzaro felice mit seiner Parabel von dem einen herzensguten, unkorrumpierbaren Menschen und seinen vielen fehlbaren, egoistischen, immer wieder aufholenden Mitmenschen ein perfektes Italienbild präsentiert. Die räumliche Verteilung der Drehorte über Süden und Norden spiegelt sich im zeitlichen Bogen, der mehr oder weniger fast 50 Jahre umfasst und in allen möglichen Konstellationen die jüngere Gesellschaftsgeschichte Italiens repräsentiert.

In erster Linie aber hat Alice Rohrwacher hier eine eigene, kohärente Gesellschaft entworfen, einen Menschenbaukasten, mit eben so einzigartigen wie parabelhaften Figuren, wie einst Fellini. Und das gibt dem Film dieses grosse Atmen, dieses Gefühl, man finde darin für kurze Zeit eine Heimat, werde daraus vertrieben, und nehme die Erinnerung daran aber danach mit nach Hause. Paradox, sentimental, verspielt und wirkungsvoll.

Und wem das nicht reicht: Die Szenenübergänge, Sequenzverknüpfungen und Zeit- sowie Ortswechsel bieten zusätzlich reichlich Analysevergnügen, zumal sie meist mit einfachsten erzählerischen Mitteln funktionieren, einmal zum Beispiel mit vorgezogenem Erzählton, der, wie es Märchen so an sich haben, in die unbestimmte Vergangenheit zurückreicht und seine Gegenwärtigkeit erst später erkennen lässt.

Auch Lazzaro felice ist, wie etliche der diesjährigen Wettbewerbsfilme in Cannes, ein Beweis dafür, dass das Langformat der Serie dem abgeschlossenen, abgerundeten Kinostück noch lange nicht den Garaus gemacht hat. Im Gegenteil: Plötzlich entdecken wir den Wert der geschlossenen Form und der Ellipsen wieder.

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