Cannes 18: SHOPLIFTERS (Manbiki kazoku) Hirokazu Kore-Eda (Wettbewerb)

Die Shibatas mit der kleinen Juri © Gaga Int.

Es ist offensichtlich, dass hier ein eingespieltes Team am Werk ist, wenn in der ersten Szene des Films Vater Osamu mit Sohn Shota im Supermarkt auf Einklautour geht: Beobachten, signalisieren, ein kleines Fingerritual von Shota und hopp ist eine weitere Packung Nudeln im Rucksack verschwunden.

Auf dem Heimweg stossen sie auf einem tiefliegenden Balkon wieder auf das kleine Mädchen, das Osamu schon mehrfach in der Kälte hat frieren sehen. Er beschliesst, sie zum aufwärmen mitzunehmen und sie folgt dankbar. Auch wenn die winzige Wohnung mit fünf Menschen völlig überfüllt wirkt Nobuyo ihrem Mann erklärt, das sei den kein Obdachlosenheim hier…

Lily Franky (Shibata Osamu) und Jyo Kairi (Shibata Shota) © Gaga Int.

Kore-Eda und seine japanischen Familiengeschichten sind spätestens seit Nobody Knows von 2004 eine eigene Kino-Gattung. Damals ging es um das Überleben und Sterben von Geschwistern in einer Wohnung nach dem Tod der Eltern. Und seither haben die meisten seiner Filme einen weitaus heitereren Grundton.

Ob es um die mögliche Verwechslung eines Kindes in der Geburtsabteilung geht, wie in Like Father Like Son von 2013, um einen geschiedenen Vater, der sich in After the Storm um sein Kind und seine Frau bemüht: Was Kor-Eda meisterhaft beherrscht sind die kleinen Nuancen, die Herzlichkeit und den versteckten Schmerz in Familiengefügen heraus zu arbeiten.

Und wenn er auf der Höhe seiner Kunst ist, ist er auch immer ganz nahe beim Kitsch, bei jener Sentimentalität, der sich ein Regisseur nur nähern darf, wenn er sich seiner Sache absolut sicher ist.

Kore-Eda ist jedes mal absolut sicher – und etwas darüber hinaus. Mit Shoplifters mehr denn je.

Matsuoka Mayu und Kiki Kilin als Aki und Hatsue © Gaga Int.

Es ist eine seltsame, fröhliche, etwas ungehobelte Familie, die sich in dieser ärmlichen Wohung durchschlägt. Die Grossmutter, die hin und wieder unwirsch den Satz fallen lässt, dass sie ja alle nur hier seien, um von ihrer Pension zu profitieren. Die ältere Tochter, die als einzige und auf Anordnung der Grossmutter nichts von ihrem Verdienst an die Gemeinschaft abgegeben muss.

Ando Sakura und Sasaki Miyu © Gaga Int.

Der Sohn, der Mühe bekundet, den Vater als Vater anzusprechen. Und das kleine Mädchen, das von einer Sekunde zur anderen die fünf als neue Familie adoptiert – was nicht allzu sehr erstaunt, nachdem die Grossmutter die Schlag- und Brandmale auf ihrem winzigen Körper entdeckt hat.

© Gaga Int.

Kore-Eda schildert den Alltag im japanischen Prekariat mit liebevoller Präzision. Die Arbeit von Osamu auf Baustellen, jene von Nobuyo in einer Reinigung. Akis eher exotische Arbeit als Kabinen-Animiermädchen in einer sehr fürsorglichen Umgebung.

Nach einem Arbeitsunfall ist Osamu erst einmal mit gebrochenem Fuss lahmgelegt und Shota, der davor noch dagegen war, die kleine Juri auf Klauzug in die Läden mitzunehmen, ist nun ganz froh um die süsse kleine Ablenkung für die Ladenangestellten.

Schliesslich fahren alle sechs für einen frählichen Tag an den Strand und man reibt sich langsam die Augen über das ganze Idyll. Ja, sie sind alle da, die kleinen Zwischentöne, die Ungereimtheiten, die seltsam fragenden Momente in dieser Familie. Aber über allem liegt Zuwendung und Rücksicht bis zu einem Grad, der einen zumindest im Kino leicht misstrauisch macht.

Und natürlich weiss dass dieser Regisseur und er setzt genau, gezielt und präzise gerade darauf.

Hirokazu Kore-Eda hat mit Shoplifters seine Kunst noch einmal verfeinert und gesteigert und perfektioniert. Er geht nicht nur bis an die Kitschgrenze und darüber hinaus, er erreicht tatsächlich und überraschend die Schmerzgrenze.

Das ist ein Film, der nachklingt, der überrascht und unerwartet aufrüttelt. Dieser Regisseur ist ein gewiefter Herzens-Manipulator, und dieses Mal nimmt er keine Rücksicht.

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