Cannes 18: THE WILD PEAR TREE (Ahlat Ağaçı) von Nuri Bilge Ceylan (Wettbewerb)

Sinan (Dogur Demirkol) und Hatice (Hazar Ergüçlü) © trigon

Desillusionierte Männer, und somit Väter und Söhne, ziehen sich durch das türkische Universum von Nuri Bilge Ceylans grossen Würfen.

Sinan (Dogur Demirkol) ist wieder so ein Sohn. Mit Anfang zwanzig deutlich jünger als seine Vorgänger, aber ebenfalls in der ersten Einstellung mit Brille und Tee hinter der Scheibe eines Teehauses zu sehen, dann entlang dem Hafen gehend.

Sinan hat sein Literaturstudium beendet und ist, mit einem ersten eigenen Buchmanuskript in der Tasche, auf dem Weg in seine Heimatstadt. Schon seine erste kurze Begegnung mit einem Barbetreiber auf dem Weg vom Bus zu Elternhaus lässt ahnen, wo seine Probleme liegen: Der Vater, ein Lehrer, hat Schulden, offenbar ist er ein notorischer Pferdewetter.

Vor dem Elternhaus stösst er zuerst auf das Familienauto, mit einem «Zu Verkaufen»-Schild im Fenster, und dann gleich auf Mutter und Schwester vor dem Fernseher, und den Vater. Allzu herzlich ist die Begrüssung nicht, aber warm.

Sinans Vater Idris (Murat Cemcir) sieht aus wie ein distinguierter Omar Sharif und hat ein gewinnendes, ruhiges Wesen. Sehr bestimmt ist er auch, sehr türkisch. Wenn er seine vor dem Fernseher sitzende Tochter auffordert, ihm seine Jacke zu bringen, meint die zwar, sie sei gleich hinter ihm, er solle sie doch selber holen. Aber sie steht auf und gehorcht.

Die ganze Familie nimmt es dem Vater übel, dass er sie mit seiner offenbar versteckten, von ihm stets abgestrittenen Wettsucht in die Schuldenfalle geritten hat. Aber Sinans Mutter wird ihm später einmal erklären, sie würde den Mann wieder heiraten. Er sei schon damals der einzige gewesen, der nicht dauernd von Geld und Gelegenheiten geredet habe, sondern von schönen Dingen und Plänen und Ideen.

Waren Nuri Bilge Ceylans frühere Filme noch von grossen Tableaus und elegischer Lakonie geprägt, kam 2014 mit Winter Sleep zum ersten Mal der grandiose Monolog und die überraschende Wechselrede dazu.

Ahlat Ağaçı macht nun die grossen Angelpunkte von Winter Sleep, die philosophischen Alltagsgespräche, zum eigentlichen Zentrum. Sie kommen wie ein Querschnitt durch die aktuellen türkischen Themen daher und decken alle Bereiche ab.

Mit einem einstigen Schulfreund redet Sinan über Telefon über dessen aktuelle Arbeit als Ordnungspolizist in einer Anti-Demo-Einheit. Fröhlich erklärt der einstige Freund, dass man in der Anonymität der Ausrüstung hinter dem Schild alle Agressionen problemlos an diesen Linken auslassen könne.

Eine Begegnung mit Hatice ( Hazar Ergüçlü), der einstigen Freundin von Sinans bestem Freund ist inszeniert wie ein Schäferidyll. Die beiden stehen unter einem Baum am Rande einer Waldwiese und unterhalten sich über das Weggehen, das Dableiben, den Frauenweg vom sesshaften Kinderkriegen. Und die ganze Zeit über erweist sich Hatice als sehr bestimmt, sehr unglücklich, flirtend und resiginiert zugleich. Ihre Hochzeit steht bevor, mit einem wohlhabenden Mann. Beim schnellen Kuss beisst sie Sinan in die Lippe.

Es gibt eine lange, in der Buchhandlung begonnene Diskussion mit einem arrivierten lokalen Schriftsteller über das Schreiben, einen langen Spaziergang mit zwei jungen Imamen, einem progressiven und einem konservativen, alles immer eingebettet in Orte und Bewegungen, mit jenen grossartigen Landschftsbildern, die einem bei Nuri Bilge Ceylan am strksten in Erinnerung bleiben.

Zentral aber sind die Wortwechsel mit dem Vater. Meist verdeckt agressiv, ein wenig lauernd und gespiegelt in den Begegnungen mit den Grossvätern und einer Grossmutter.

Nuri Bilge Ceylan breitet das alles über drei Stunden und acht Minuten aus, unbeirrbar, unfehlbar in der Bildgestaltung, und mit Dialogen, die ihrer kunstvollen Geschriebenheit zum Trotz eigentlich immer echt und alltäglich wirken.

Dazwischen gibt es, wie immer bei diesem Regisseur, Bilder die bleiben. Ein Kameraschwenk einem knarrenden Seil entlang nach unten, wo ein Korb mit einem schlafenden Kleinkind hängt, über und über bedeckt mit Ameisen.

Eine Einstellung der gleichen Art, dem Seil eines Ziehbrunnens entlang, an dem dann allerdings nicht Vater Idris als Baby im Korb hängt, sondern Sinan.

Sie alle erweisen sich als Traumbilder. Und gleichzeitig sind die Filmbilder auch metaphorisch. Der Ziehbrunnen, den der Vater über Jahre hinweg gräbt, gegen die Überzeugung aller Nachbarn, die erklären, da unten gebe es kein Wasser. Die grossen Steinbrocken, die er aus der Tiefe holt, einmal mit Hilfe des Sohnes, dann wieder alleine.

Ahlat Ağaçı ist in jeder Sekunde ein richtiger Nuri Bilge Ceylan Film. Einzigartig, ausufernd, diszipliniert und perfekt in der Balance zwischen Gegenwart und Geschichte. Das sind Filme, die man stundenlang interpretieren kann, oder denen man sich einfach für ein paar Stunden überlässt.

Literarischer und elegischer als das Leben sich hier ausbreitet, kann man gar nicht filmen.

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