Locarno 18: TARDE PARA MORIR JOVEN (Too Late to Die Young) von Dominga Sotomayor (Wettbewerb)

Die Kinder von Aussteigern haben es nicht leichter als alle anderen. Im Gegenteil: Wenn sie weg wollen von den Eltern, müssen sie fast zwangsläufig dahin, wo die Eltern herkommen.

So geht es Sofia in der alternativen Kolonie in Chile, in der sie aufgewachsen ist. Sie lebt mit ihrem Vater, einem Instrumentenbauer, und ihrem Bruder in den 1990er Jahren in dieser kargen ländlichen Idylle in den Bergen hoch über der grossen Stadt.

Andere Familien halten Pferde, viele bauen Beeren an, auch wenn Wasser immer wieder knapp wird. Strom gibt es keinen, ausser hin und wieder von einem kleinen Generator. Oder aus Batterien für die Kassettengeräte und Radios.

Die Gemeinschaft ist zentral, diese Familien sind nach dem Ende der Diktatur hierhergezogen. Über Dinge wie den allfälligen Bau einer Stromleitung wird gemeinsam abgestimmt, man feiert Feste mit viel Musik und Gesang.

Manchmal bekommt man das Gefühl, der Film von Dominga Sotomayor zeichne eine Späthippie-Kolonie. Aber die Kinder und Jugendlichen stehen meist im Zentrum.

Sofia leidet unter der Schweigsamkeit ihres Vaters, unter der Abwesenheit der Mutter, einer einigermassen erfolgreichen Sängerin, die sich längst wieder in urbanen Zirkeln bewegt. Sofia hofft, die Mutter komme wenigstens zum grossen Neujahrsfest – und plant heimlich, dann gleich mit ihr in die Stadt zu ziehen.

Irgendwie bewegt sich die Kamera fast andauernd unter diesen Menschen, bleibt bei den einen, dann wieder den anderen. Beobachtet Sofia beim eingespielten Flirt mit ihrem Jugendfreund, dessen Blick, als da plötzlich ein älterer Rivale aus der Stadt auftaucht, die Blicke der Kinder untereinander und die vielsagenden Blickwechsel zwischen den Erwachsenen, wenn sie sich an frühere Verbindungen, Allianzen und Eifersuchten erinnern.

Neben dem stillen Beobachten und der kunstvollen Verschränkung all dieser Leben fliessen ganz sachte Stimmungsströme ein. Das wegen der grossen Trockenheit stets drohende apokalyptische Feuer, der Waldbrand, wird als Möglichkeit früh eingeführt und die Frage nach dem Zeitpunkt des eben so metaphorischen wie realen Ausbruchs schwingt stets mit.

Mehr noch aber klingt da dieser Generalbass der Wehmut, des Abschieds vom nicht so perfekten Paradies der Kindheit und der Jugend. Und das erinnert abstruserweise mehr als einmal an George Lucas‘ Cruising-Klassiker American Graffitti.

Tarde para morir joven ist selbstverständlich ein Rock’n Roll-Titel par Excellence, auch wenn die Musik, auch die der Jugendlichen, dann doch eher wieder an Joni Mitchell und die Singer/Songwriter-Szene erinnert.

Der Film von Dominga Sotomayor ist nicht nur farblich ausgewaschen, dem staubigen Grün und Braun der Gegend angepasst, sondern auch vom ruhigen Tonfall über das zeitweise fast dokumentarische Framing gezielt paradox inszeniert. Denn die wehmütigen und dramatischen Untertöne sind stets präsent, eben so wie die dick aufgetragene, aber sich unauffällig gebende Metaphorik.

Dass die Filmemacherin das alles aber auch ironisiert, macht ihren Film doppelt sympathisch. Da sehen wir am Anfang einen dickhaarigen Hund hinter dem fahrenden Auto mit dem Vater und den Kindern her rennen und langsam zurückfallen – in Zeitlupe.

Und später, als der Hund verschwunden bleibt und das kleine Mädchen untröstlich ist, finden ein Cousin und die Mutter das Tier bei einer Familie in der kleinen Stadt in der Nachbarschaft. Er heisst jetzt Cindy und lebte angeblich schon immer da… mit ein paar Geldscheinen wird er ausgelöst und mitgenommen. Aber das kleine Mädchen merkt schon am nächsten Tag, dass dieser Hund tatsächlich nur auf «Cindy» hört. Und als der real-metaphorische Waldbrand dann da ist, lässt sie ihn von der Leine und er rennt – in Zeitlupe – durch die Rauchschwaden hinunter in die Stadt.

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