Locarno 18: DIANE von Kent Jones (Wettbewerb)

Mary Kay Place als Diane © visitfilms.com

Mary Kay Place ist eine jener Schauspielerinnen, die wir alle sofort wieder erkennen, ohne sie eindeutig einer Rolle zuordnen zu können. In unzähligen Serien und gegen hundert Spielfilmen hat sie prägnante sogenannte Charakter-Rollen gespielt.

Und nun ist Mary Kay Place Diane, im Film des einstigen Filmkritikers, Dokumentarfilmers und Direktor des New York Film Festivals, Kent Jones.

Diane ist einer jener Frauen, die den grundanständigen Kern der us-amerikanischen Gesellschaft verkörpern. Eine Mittelstands-Frau in Massachusetts, die sich um alle anderen mehr kümmert als um sich selber. Sie besucht Bekannte im Spital, bringt einer Nachbarin Essen vorbei, arbeitet in der Suppenküche für die Bedürftigen und kümmert sich immer wieder um ihren drogensüchtigen erwachsenen Sohn, bis zur Verzweiflung.

Diane lebt allein, man geht davon aus, sie sei verwitwet. Später erfahren wir aber auch von einer Affäre mit dem Freund der besten Freundin in den neunziger Jahren, von Schuldgefühlen und Lebenslust, von Freundschaften und Verbitterungen, die schon Jahrzehnte andauern.

Diane ist ein ungemein kunstvoll gebauter, auf den ersten Blick einfach und direkt erzählender Film, der Schicht für Schicht vom Leben seiner Protagonistin erahnen lässt, ohne sie abzutragen.

Mary Kay Place als Diane © visitfilms.com

Zuerst sind wir beeindruckt von der Unermüdlichkeit nicht nur der Hauptfigur, sondern auch ihrer Freundinnen. Wie diese Frauen die eigenen Lebenswidrigkeiten und jene der anderen wegstecken, überarbeiten, umpflügen und mit zupackender Selbstverständlichkeit auffangen wirkt so täuschend beiläufig erzählt, dass einen die Ehrfurcht packt.

Dann kommt der bissige Humor dazu, die hochpräzisen, giftig-gutmütigen Verbalpfeile, ein Austausch am Spitalbett, der eskaliert, wie er offenbar schon seit vielen Jahren immer wieder eskaliert, Momente, die man einmal miterlebt und sofort weiss, dass sie eingespielt sind, erprobt, nicht abzustreifen.

Im Verlauf des Films, der übrigens auch in Sachen Kamera-Arbeit und Schnitt getarnt daher kommt, so tut, als hätte sich das alles einfach so ergeben, wird Diane einsamer und verlorener. Ihre echte oder vermeintliche Schuld drängt sich vor, und sie muss Vergebung für sich selber finden.

Auf dem Weg dahin inszeniert Kent Jones ein paar Kabinett-Stücke, Ensembleszenen, die sich gewaschen haben. Etwa ein Besuchsabend in der grossen Küche eines Hauses, in der rund zehn der älteren Freundinnen und Freunde versammelt sind, Erinnerungen und Informationen und Bissigkeiten und Anekdoten austauschen, während die jüngere Generation sich immer wieder an den Tisch drängt, um sich ein Cookie zu schnappen.

Mary Kay Place als Diane © visitfilms.com

Oder die Einladung Dianes zu ihrem frisch drogenentwöhnten Sohn Brian, seiner bigotten Frau und einer Freundin, die alles daran setzen, sie zu ihrer Errettungskirche zu bekehren – bis Diane grob ausfällig wird auf eine Art, die auf uns im Publikum unendlich viel befreiender wirkt als auf sie.

Kent Jones ist ein stiller, unspektakulärer, heimlich grossartiger und eindringlicher Film gelungen über das Herz der amerikanischen Gesellschaft, jene Kombination aus schlechtem Gewissen und Solidarität, Gemeinschaftssinn und Verzweiflung, welche bis heute jenen anderen, echteren und zuweilen schmerzhaft puritanischen amerikanischen Traum vom anständigen, hilfsbereiten Umgang miteinander am Leben hält.

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