Locarno 18: SIBEL von Cağla Zencirci, Guillaume Giovanetti (Wettbewerb)

Damla Sönmez als Sibel © Pyramide

Das Rotkäppchen in diesem Film heisst Sibel, und sie ist eher ein Aschenbrödel. Auch wenn sie ihre Füsse für die Wolfsjagd in knallrote Gummistiefel steckt und mit einer vom Vater geschenkten Flinte unterwegs ist, die ihren Namen trägt.

Das türkisch-französische Filmer-Paar hat etwas gar viel in seinen jüngsten Film gepackt:

  • Die Parabel von der bedrohten traditionellen Macht, die sich zu halten versucht, in dem sie alle Oppositionellen zu Terroristen erklärt.
  • Den Wolf als projizierte Bedrohung für die Gemeinschaft, und als erotische Phantasie für eine erwachende junge Frau.
  • Die Stummheit der Hauptfigur als Ausdruck ihres Andersseins und Grund für ihre Aussenseiterrolle.
  • Und die faszinierende, tatsächlich existierende Pfeifsprache in diesem kleinen Bergdorf in der türkischen Schwarzmeer-Gegend, als Möglichkeit für Sibel, trotzdem kommunizieren zu können – aber nur mit Einheimischen, nicht mit dem vor dem Armeedienst geflüchteten Ali, der sich im Wald versteckt und in Sibels Wolfsfalle gerät.

Sibel ist ein zeitgenössisches Märchen, eine Türkei-Parabel, eine Gemeinschaftsstudie, das Porträt einer eigenwilligen, eigensinnigen und selbstbestimmten jungen Frau, und damit schlicht ein wenig überladen.

Damla Sönmez, Emin Gürsoy, Elit Iscan © Pyramide

Dabei sind die einzelnen Erzählstränge durchaus faszinierend. Sibel, die stumme Tochter des verwitweten Bürgermeisters, ist sein heimlicher Stolz. Er geht mit ihr auf die Jagd, er weiss, sie ist die bessere Schützin als er. Er vertraut ihr, lässt sie ohne Kopftuch und jederzeit das Haus verlassen, sehr zum Verdruss der verwöhnten jüngeren Schwester.

Für die Frauen des Dorfes ist Sibel mit ihrer demonstrativen Freiheit ein Ärgernis und eine potentielle Bedrohung, für die Männer schlicht eine arme Behinderte. Und nicht zuletzt darum ist die junge Frau auf der Pirsch. Ihr Traum wäre es, den Wolf zu erlegen, das Dorf von der unsichtbaren Bedrohung zu befreien und so ihren Platz in der Gemeinschaft zu finden.

Bloss existiert der Wolf nicht wirklich, dafür taucht Ali auf im Gebüsch. Der junge Deserteur wirkt zwar wie ein Wolf auf Sibel, aber dadurch auch faszinierend und anziehend gefährlich.

Damla Sönmez, Erkan Kolçak Köstendil © Pyramide

Gefilmt ist das alles in einer überaus malerischen Umgebung, in Teeplantagen, auf Maisfeldern, im Dorf und im Wald, mit schönen, farbsatten Bildern.

Aber obwohl der Film nur 95 Minuten lang ist, zieht er sich doch zunehmend in die Länge. Am meisten gegen sein Ende, als die künstlich geschürte Wolfs-Angst und die Terroristen-Hetze in der aktuellen Türkei etwas gar deutlich ausgespielt werden, so sehr, dass man sich unwillkürlich fragt, ob dieser Film in Erdogans Reich in dieser Schnittversion wohl je wird gezeigt werden können.

Damla Sönmez © Pyramide

Immerhin sind neben all den märchengerecht eindimensionalen Figuren jene der Sibel (Damla Sönmez erinnert an Marion Cotillard und an die Rote Zora) und jene des Vaters (Emin Gürsoy) ausgesprochen modern und faszinierend widersprüchlich. Ihre Konflikte sorgen dafür, dass immer wieder echte Spannung aufkommt, die der Film leider nicht halten kann.

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