Elf Jahre ist es her, seit Cristian Mungiu mit Vier Monate, drei Wochen und zwei Tage die neue rumänische Welle zur globalen Anerkennung brachte.
Im Zentrum standen damals das staatliche Abtreibungsverbot im kommunistischen Rumänien der 1980er Jahre und die Unrechts- und Feigheitsketten, die damit verknüpft waren.
Nun nimmt Radu Muntean das Thema wieder auf, fast spiegelbildlich, im zeitgenössischen Rumänien.
Die Titelfigur Alice ist ein nicht allzu intelligenter Teenager, ihre Adoptiveltern sind geschieden. Alice schwänzt nicht nur bei jeder Gelegenheit die Schule, sie hat auch sonst keine Vorstellung von den mittelfristigen Auswirkungen ihres auf den schnellen Kick ausgelegten Lebens.
Als ihre Mutter nach einer weiteren Eskapade ihr Mobiltelefon konfisziert und dabei herausfindet, dass Alice schwanger ist, rettet diese sich schliesslich unter Tränen in die Behauptung, sie wolle dieses Kind.
Die perfide Strategie geht auf, das Herz der Mutter geht auf. Das erinnert ziemlich an den Konflikt in Stina Werenfels‘ Verfilmung von Lukas Bärfuss‘ Dora, wo die Mutter mit ihrem eigenen unerfüllten Kinderwunsch klar kommen muss, angesichts der nicht zu verhindernden Schwangerschaft ihrer geistig behinderten Tochter.
Nun ist Alice keineswegs geistig behindert. Sie und ihre Freundinnen sind eher wohlstandsverwahrloste Mittelstandsgören, für die alles bloss ein paar Internet-Links entfernt scheint. Nicht nur die Abtreibungspillen holt sich Alice dort, auch die Informationen über die unmittelbare Wirkung und der schnelle Check, ob die bald einsetzende massive Blutung normal sei.
Das Kind ist weg, aber Alice hält die Fiktion gegenüber ihrer Familie aufrecht und erkauft sich damit Zuwendung.
Das ist ein höchst interessantes Drehbuch, und Muntean hält auch den rumänischen Realismus ohne Filmscore knallhart durch. Alice und ihre Freundinnen benehmen sich wie kleine Monster, aber sie sind es nicht.
Es ist dauernd spürbar, dass da eine Leere, ein Schmerz, eine Sehnsucht lauert. Die unglaubliche Patzigkeit und Verantwortungslosigkeit der jungen Frau konstrastiert mit ihrem zeitweiligen Anlehnungsbedürfnis und der Komplizität mit der Mutter, die sich einstellt, als diese die Schwangerschaft der Tochter mit zu tragen beginnt.
Leider hat der Film ein unüberwindbares Handicap: Die junge Darstellerin der Alice ist der Rolle nicht gewachsen. Physisch ist sie auf überzeugende Art präsent, die knallrot gefärbten Haare nehmen das durch den ganzen Film gestreute Signalrot immer wieder auf.
Aber in den feineren Momenten muss man die Zwischentöne des Drehbuchs erahnen. Wenn Alice zum ersten Mal losheult und damit ihre Mutter wieder um den Finger wickelt, wirkt das noch einigermassen glaubwürdig unecht – schliesslich glaubt sich die Figur selber nicht.
Aber je weiter die Geschichte fortschreitet, desto klarer wird, dass diese Alice vielschichtiger geschrieben ist, als sie nun auf der Leinwand erscheint. Das würde vielleicht gar nicht so sehr auffallen, wären wir nicht längst gewöhnt an die darstellerische Perfektion im rumänischen Kino, die oft gerade über mimische Leerstellen noch stärker wirkt.
Alice, beziehungsweise ihre Darstellerin, kann nicht heulen. Und das tut weh.