Berlinale 19: SYSTEMSPRENGER von Nora Fingscheidt

Helena Zengel © Peter Hartwig / kineo / Weydemann Bros. / Yunus Roy Imer

Dieses deutsche Spielfilmdebut lief zwar schon am zweiten Festivaltag, ist aber bis jetzt – es sind schon mehr als die Hälfte aller Filme des internationalen Wettbewerbs gelaufen – immer noch der spannendste Beitrag. Weil er aufregend ist, laut, fordernd und überfordernd. Und weil er viel wagt und dabei viel gewinnt.

«Systemsprenger», das sind Kinder, die weder in Familien, noch in Wohngruppen oder Heimen zurechtkommen, die Regeln noch mit Konventionen einhalten können, denen mit dem Erziehungssystem nicht beizukommen ist.

Helena Zengel © Peter Hartwig / kineo / Weydemann Bros. / Yunus Roy Imer

Benni ist so eine Systemsprengerin. Sie ist neun Jahre alt, ist schon aus 27 Heimen oder Wohngruppen rausgeworfen worden und im Lauf des Films werden es noch mehr sein, auch die Kinderpsychiatrie kommt nicht weiter. Bennis alleinerziehende Mutter kommt mit ihrer ältesten Tochter sowieso gar nicht zurande, obwohl sie zumindest die einzige ist, die Benni ins Gesicht fassen darf – tut das jemand anderes, rastet das Mädchen komplett aus. Warum das so ist, erfährt man nur am Rande mal kurz: offenbar wurden ihr als Kind wiederholt volle Windeln aufs Gesicht gedrückt.

Bennis Ausbrüche sind radikal, sind unkontrollierbar, sind so heftig, dass die 9-jährige auch schon mal Sicherheitsglas kaputt macht.

Die 35-jährige Regisseurin Nora Fingscheidt erzählt viel aus Bennis Perspektive – wenn diese wieder einmal einen Ausbruch hat, dann explodiert quasi auch der Film – stroboskopartig wechseln Bilder ab, manchmal ist die Leinwand nur grell pink und man hört das Schreien des Kindes.

Helena Zengel © Peter Hartwig / kineo / Weydemann Bros. / Yunus Roy Imer

Bennis Gang durch die Institutionen ist eine Art hilfloser Postenlauf – aber Fingscheidts Film ist keine Kritik am System, das Benni einfach nicht aufzufangen vermag. Sie zeigt zwar auch die Schwächen auf: das Kind hat bis auf die Betreuerin vom Jugendamt, Frau Bafané (Gabriela Maria Schmeide), eine Frau, die immer wieder da ist, keine konstante Bezugsperson, die Mutter ist komplett überfordert und zieht sich immer wieder zurück, und wenn Benni sich einmal an einen Betreuer gewöhnt hat, muss sie ins nächste Heim.

Vielleicht nennt sie deswegen alle Sozialpädagogen schlicht «Erzieher». Als mit Micha (Albrecht Schuch) ein neuer Schulbegleiter auftaucht, scheint sich ein Weg für Benni abzuzeichnen. Micha, der bisher mit straffälligen männlichen Teenagern gearbeitet hat, nimmt Benni drei Wochen mit in den Wald, ein eins-zu-eins Bootcamp. Benni scheint es besser und besser zu gehen. Herzzerreissend dann der Moment, in dem Benni auf einer Wanderung zum ersten Mal ihr Echo hört. Und nicht mehr aufhört, «Mama! Mama!» zu rufen.

Die Sensation in diesem Film ist Benni, beziehungsweise die heute 10-jährige Helena Zengel, die Benni spielt und trotz ihres Alters schon einige Schauspiel- und Kameraerfahrung hat. Sie spielt dieses Kind, das in einen Moment zärtlich mit seinen jüngeren Geschwistern spielen kann und im nächsten ihren Betreuer mit einem Messer bedroht, mit einem schier unglaublichen Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten. Und sie spielt so intensiv, dass dieses Kind, obwohl mehr als nur Nervensäge, auch in seinen guten Momenten, Sympathieträger des Films bleibt. Bleibt am Ende die Frage: was ist hier wirklich dysfunktional, das System, das auch Beutreuerinnen und Betreuer an den Rand bringt, oder das Kind? Eine endgültige Antwort gibt der Film nicht, will und kann er nicht. Das macht ihn – der am Ende doch die eine oder andere Länge hat – glaubwürdig und stark.

Regie: Nora Fingscheidt © Philip Leutert