NYON 19: WHERE WE BELONG von Jacqueline Zünd

‚Where we belong‘ von Jacqueline Zünd © filmcoopi

Die Zwillinge Alyssia und Illaria haben wahrscheinlich am meisten Glück gehabt. Ihre Eltern trennten sich, als sie noch relativ klein waren. Und die beiden erzählen vor der Kamera unumwunden, wie die Mutter dem Vater Fremdgehen vorgeworfen habe, dass es möglicherweise aber auch umgekehrt gewesen sei.

Bauernsohn Thomas hat etwas mehr Mühe mit seinen Erinnerungen. Eines Tages habe die Mutter nach einem Streit mit dem Vater gepackt und sei in die Ferien gefahren. Danach habe man nicht mehr über sie gesprochen. Auch wenn er sich schon etwas wunderte, dass die Ferien nach einem Jahre immer noch nicht vorbei waren.

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Sherazade in Basel ist dafür ziemlich sicher, dass sie der Auslöser dafür war, dass sie und ihr jüngerer Bruder Carleton jetzt im Heim leben — immerhin gemeinsam. Sie habe damals einfach noch nicht durchschaut, wie sehr der Vater nach der Trennung die Mutter schlecht machte vor den Kindern. Darum sei sie eines Tages wütend von der Mutter weg. Bloss, um bald festzustellen, dass sie und Carlton danach nicht zum Vater kamen, sondern eben ins Heim.

Jacqueline Zünds jüngster Dokumentarfilm ist einmal mehr ein schwebender Tauchgang in Menschlichkeit. Sie sei nervös gewesen, erzählt sie in Nyon, nervös vor den ersten Interviews mit diesen Kindern und Jugendlichen, die sie gecastet hatte für diesen Film über Trennungskinder. Und dann habe sich herausgestellt, dass es eigentlich ganz einfach sei: Fragen stellen, wie bei Erwachsenen.

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Die Antworten haben es in sich. Die sieben- oder achtjährigen Zwillingsmädchen oszillieren mühelos zwischen verspielter Kindlichkeit und glasklarer Analyse. Sie halten fest, dass sowohl der neue Mann der Mutter wie auch die neue Frau des Vaters sich gut um die geliebten Eltern kümmern.

Sherazade und ihr Bruder Carlton, ziemlich reife Teenager, sind sogar staunenswert eloquent. Ihr Basler Dialektmix erweitert ihre Aussagen um eine Poetry-Slam-würdige Sprachfarbe. Gleichzeitig wird hör- und sichtbar, wie viel eigene und gemeinsame Analyse- und Erklärarbeit hinter ihrer Abgeklärtheit steckt.

Thomas dagegen spricht vor allem über all das, was nicht gesagt wurde.

Where we belong ist zwar ein Zeugnisfilm, in dem viel erzählt wird. Aber gleichzeitig noch einmal eine Stufe physischer, sinnlicher, tragender als Zünds schon bisher sehr tragende, schwebende Dokumentarfilme wie Almost there.

Zünd lässt die Kinder und Jugendlichen direkt in die Kamera sprechen, ohne dass ein Talking-Heads-Effekt entsteht. Denn dieser Film ist ein durchkomponiertes Kunstwerk voller Bewegung. Der Sound (Marco Teufen, Reto Stamm) und die Musik von Thomas Kuratli fliessen ineinander, die Bilder oft auch, von einer Bewegung in die nächste.

Dabei inszeniert Jacqueline Zünd ihre fünf Protagonistinnen und Protagonisten sehr individuell und jeweils sehr anders.

Die Basler Geschwister sind immer wieder in ihrer städtischen Umgebung zu sehen, an Orten, die Basler als Basel identifizieren können. Aber erst nach zweimaligem Hinschauen. Denn diese Ecken wirken urbaner, futuristischer und zugleich belebter als die Wirklichkeit. Und dann wieder sieht man Bruder oder Schwester perfekt farbig ausgeleuchtet erzählen, wie die Stars, die sie so mühelos sein können.

Bauernsohn Thomas redet aus seiner Umgebung heraus, da sind Töffli und Steinbruch, Waldstrasse, Traktor, das Bauernhaus. Und diese leere, freie Umgebung lässt die Abwesenheit der Mutter zu einem permanenten Echo werden.

Am schönsten aber sieht Jacqueline Zünd die Zwillinge. Sie, beziehungsweise Kameramann Nikolai von Graevenitz, filmt sie wie junge Katzen. Einmal gar beim Tauchen unter Wasser, ein Gewusel von Beinen, Armen, Körpern in schwereloser, verspielter Bewegung.

Als Zuschauer bin ich froh, dirigiert hier eine Frau meinen Blick. Und gleichzeitig realisiere ich, dass solche Entscheidungen den ganzen Film bestimmen: Hinschauen und Hinhören verlangen nach einer Haltung. Diese Haltung entwickelt der Film mit der Filmemacherin, genauso, wie sie erst eine Position zum Fragen stellen finden musste. Nun aber, mit diesem fertig geschnittenen Gesamtkunstwerk, ist diese Haltung klar und stark und betont die Klarheit und die Stärke der Kinder und Jugendlichen mit einer beschämenden Selbstverständlichkeit.

Where we belong ist einer dieser grossen Dokumentarfilme, die das Staunen im Alltag finden, in menschlichen Situationen, die wir alle aus nächster Umgebung kennen, viele gar aus eigener Erfahrung. Schmerz und Angst und Trauer werden nicht ausgeblendet, aber auch nicht isoliert. Sie blitzen auf hinter jedem klaren Satz, hinter jeder abgeklärten Bemerkung.

Sherazade bringt es einmal deutlich auf den Punkt: «Normalität» definieren wir selber, idealerweise für uns und nicht für die anderen.

SRF hat diesen Film koproduziert
Uraufführung war im Februar an der Berlinale
Kinostart Deutschschweiz: 14. November 2019

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