Nachtrag 12. April: Die Jury der Visions du réel (Joslyn Barnes, Produzentin; Pauline Gygax, Produzentin; Orwa Nyrabia, Artistic Director and Producer) hat entschieden, der Hauptpreis, die Sesterce d’or (CHF 20’000) 2019 geht an Thomas Heise.
Die Kombination ist erschlagend, herzabdrückend: Über rund zwanzig Minuten sind auf der Leinwand nur Listen zu sehen. Minutiös getippte Listen mit Erfassungsnummern, Wohnadressen und Namen von Jüdinnen und Juden.
Die Listen sind alphabetisch nach Nachnamen geordnet und es dauert entsprechend lange, bis der Familienname von Thomas Heises Grossmutter aus Wien auftaucht.
Über die Listen mit den Namen aber legt sich die Stimme von Thomas Heise. Er liest Briefe vor, welche Vater, Mutter und Schwester aus Wien an die Heises in Berlin geschrieben hatten. Briefe mit Informationen zunächst über Schikanen – Juden durften die Busse nicht mehr benutzen, bekamen keine Kohle mehr, mussten Wohnungen räumen.
Dann tauchen erste Informationen über «Polentransporte» auf, über Frauen und Männer, die sich mit maximal 50 Kilogramm Gepäck am Prater Bahnhof einzufinden hatten.
Und irgendwann die Nachricht, nun habe es – überraschend kurzfristig – auch die Familie von Heises Grossmutter erreicht. Zurück bleibt nur die Tante Pepi, aufgrund ihrer Mischehe, ihrer Nerven. Und für den Rest ihres Lebens geprägt vom Gefühl, Mann und Familie verraten zu haben.
Thomas Heise erzählt über hundert Jahre deutsche Geschichte anhand von Briefen, Tagebucheinträgen und ein paar wenigen Fotografien komplett über die Geschichte seiner Familie.
Den Anfang macht ein Schulaufsatz von Grossvater Wilhelm Heise, geboren 1897 in Fürstenwalde an der Spree, der die Schrecken des Krieges eloquent geisselt. Und dann überraschend mit einem patriotischen deutschen Schlenker ins Kriegspathos des kommenden ersten Weltkrieges einmündet.
Es ist der gleiche Wilhelm, der später eine Jüdin aus Wien heiraten wird, der gleiche, der darum 1934 vom Naziregime aus seinem Lehramt entlassen werden wird.
Dass Thomas Heises Familiengeschichte so viel abdeckt von der deutschen Geschichte, und das auch noch eloquent und reflektiert über Briefe und Tagebucheinträge von so vielen intelligenten, wachen und gebildeten Frauen und Männern, spiegelt die deutsche Tragödie auf eine dermassen eindringliche, erschütternde Weise, dass Heise für die Bildgestaltung seines Films auf einen ruhigen, bedächtigen, fast hypnotischen Bilderfluss setzt.
Nach den zwanzig Minuten mit den Listen folgen vor allem mehr oder weniger menschenleere Landschaftsbilder, fahrende Züge, zerfallende Gebäude, eine geborstene Strasse.
Ursprünglich seien nur zwei Drehorte vorgesehen gewesen, erzählt Thomas Heise. Ein Bahnhof in Berlin und der Prater Bahnhof in Wien, an dem die jüdischen Zuwanderer aus dem Osten einst angekommen waren, und von dem aus tausende von ihnen später deportiert wurden.
Gleichzeitig war klar, dass die Bilder vom riesigen Rangierbahnhof eben so wenig zu den erschütternden Briefen aus Wien passen würden, wie jene von fahrenden Zügen. Mehr als die Listen braucht es nicht, die getippten Namen verbinden sich mit den schrecklichen Schilderungen der Familienbriefe zu einem umfassenden Horror.
218 Minuten lang ist der fertige Film von Thomas Heise, ein am Schneidetisch gewachsenes Kunstwerk von seltener Eindringlichkeit.
Dass seine Mutter gleich nach dem Krieg, vor der Hochzeit mit Philosophieprofessor Wolfgang Heise, eine kurze, heftige Liebesgeschichte und danach einen langen Briefwechsel mit einem Jura-Studenten hatte, einem Udo, der im Westen studierte und sich in unzähligen Briefen über die Hoffnungen und Parolen der geliebten Frau in der DDR ärgerte und mokierte, hat Thomas Heise erst beim Aufarbeiten der Briefe und Tagebücher seiner Mutter herausgefunden.
Aber diese Brücke über ideologische Argumente und politische Grenzen hinweg ist ein Glücksfall für den Film, eben so wie die Briefe von Heises Mutter an den Dramatiker Heiner Müller, dessen Gespräche mit Heises Vater, die Verbindungen von Wolfgang Heise zu Wolf Biermann und anderen «Dissidenten» — denn die deutsche Geschichte über diese höchst persönlichen Familiendokumente (14 Ordner voll seien es schliesslich gewesen, erzählt Thomas Heise) reisst so einfach nicht ab.
Die DDR-Militärzeit von Thomas und seinem Bruder Andreas wird eben so Teil dieses «Heimat-Raums» wie der späte Briefwechsel von Heises Mutter mit Christa Wolf über die Spitzel-Tätigkeiten und die Stasi im Rückblick.
Heimat ist ein Raum aus Zeit hat an der Berlinale im Februar den Caligari-Preis gewonnen und ich würde dem Film auch hier an den 50. Visions du réel in Nyon einen grossen Preis wünschen. Unter den vielen eindrücklichen Filmen, die ich in den letzten sieben Tagen hier gesehen habe, ist der von Thomas Heise der eindrücklichste, ausgreifendste, nachhaltigste und umfassendste überhaupt.
Persönlicher und zugleich allgemein gültiger kann man Geschichte nicht erzählen.
Ob der Film in der Schweiz je eine weitere Kinovorführung
erleben wird, ist noch offen.