Cannes 19: THE WILD GOOSE LAKE (Nan fang che zhan de ju hui) von Diao Yinan

© Green Ray / Memento

Von diesem Film bleiben zunächst vor allem die grossartigen filmischen Einfälle haften. Etwa ein Motorrad-Wettstehlen zweier rivalisierender Gangs: Wer in der festgelegten Zeit in einer Nacht mehr Töff, Roller und Mopeds klaut, bekommt das Territorium zugesprochen.

Also sehen wir minutenlang hunderte von Männern in Gruppen auf Motorrädern durch die Nacht rasen, manche Roller brillant mit LED-Ketten illuminiert, andere wie Doppelkäfer, weil jeder Fahrer noch ein zweites Kraftrad neben sich herschiebt.

© Green Ray / Memento

Später, als die Hauptfigur wegen Polizistenmord schon längst auf der Flucht vor allen ist, geraten seine Frau, etliche Polizisten in Zivil und diverse rivalisierende Gangmitglieder auf der Suche nach ihm auf einen grossen Rummelplatz, wo unter anderem eine riesige Gruppe von Menschen zu Boney Ms «Rararasputin – Lover of the Russian Queen» einen Line-Dance im Quadrat hinlegt – die meisten von ihnen mit Schuhsohlen voller blinkender LED. Was zu einem grossartigen Lichterfest führt, als während der folgenden Schiesserei die Leute leuchtenden Fusses in alle Richtungen davonstieben.

Es sind vor allem solche Masseninszenierungen, von denen man gerne annimmt, dass sie wohl nur noch in China und allenfalls in Indien mit echten Komparsen überhaupt gedreht werden können.

Ebenso das Spektakel, das sich ergibt, als der flüchtende Gangster mit der ihm helfenden Prostituierten vom einen Hügel aus zuschaut, wie im nächtlichen Dunkel die als Motorradgang getarnten Polizisten in der Ferne zwei weitere Bergstrassen hinauf und hinunter kreuzen, geräuschlose Lichtbüschel auf kurvenreichen Bergwaldstrassen.

Der Mann, der das alles inszeniert, ganz offensichtlich ohne staatliche Behinderung und mit der nötigen Zensurfreigabe vor der Titelsequenz auf der Leinwand in Cannes, führt bei diesem Film zum vierten Mal selber Regie.

Für insgesamt sieben hat er das Drehbuch beigesteuert. Und zur Zeit ist er bei uns als Schauspieler zu sehen: Diao Yinan spielt Lin Jiadong in Ash Is The Purest White von Jia Zhang-Ke, der letztes Jahr hier in Cannes im Wettbewerb war.

© Green Ray / Memento

The Wild Goose Lake ist durchaus verwandt mit Jia Zhang-Kes Gangster-Drama, das nun eben in den Schweizer Kinos läuft. Allerdings stehen im Zentrum nicht die verschwindenden Triaden, sondern ihre modernen Nachfolger, die organisierten Kriminellen und ihre staatlichen Gegenspieler, die Polizei und das Überwachungssystem.

Der Modernisierungssprung, den Ash is the Purest White über seine Spieldauer abdeckt, ist in Diao Yinans Film vollzogen. Gangs wie Polizei sind mit modernster Technologie vertraut.

In einer eben so eindrücklichen wie zunächst komischen Szene zu Beginn des Films findet im Keller eines Hotels ein Motorradklau-Workshop statt. Instruktoren zeigen den interessierten Mitgliedern dutzender Gang-Clans wie man das GPS an einem Luxus-Motorrad aushebelt, wie man den Alarm an den weniger teuren lahmlegt, welche Schlosskombinationen man nicht zu knacken versuchen sollte, und welche Einzelteile sich zu stehlen lohnen, weil sie am leichtesten zu verkaufen sind (Profitipp: Die Batterie).

Plotmässig ist The Wild Goose Lake fast A bout de souffle. Der Held ist der Anführer einer der Gangs, der gegen Ende der Motorradklau-Olympiade auf der Flucht vor den Rivalen zwei Polizisten erschiesst. Fortan sind ihm alle auf den Fersen, auch darum, weil ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt wurde.

© Green Ray / Memento

Dieses wiederum möchte er für seine Frau gesichert wissen, darum soll sie ihn verpfeifen. An seiner Seite ist dann aber stellvertretend die kurzhaarige Prostituierte, die – typisch für diese neuen chinesischen Filme – eben so knallhart sein kann wie die Männer.

Diao Yinan demonstriert mit diesem Film einmal mehr, was gut variiertes Genre-Kino zu leisten vermag. Auch wenn von Aussen gesehen schwer zu sagen ist, wie sehr das hier gezeigte städtische China der Realität entspricht, ist hier doch mehr vom Alltag und den Lebensumständen aktueller Generationen zu sehen, als man zunächst vermuten würde.

Die Mischung ist enorm unterhaltsam und instruktiv. Zwischen Hongkong-Action, hardboiled Neonoir und der Fast-and-the-Furious-Franchise läuft hier ein nur schon rein optisch im wörtlichen Sinne spektakuläres kinetisches Ballett auf der Leinwand, blutig und realistisch.

Und hin und wieder urkomisch poetisch. Etwa dann, wenn die Suche nach einem bewaffneten Flüchtigen die Polizisten in Zivil in einen Zoo führt, wo sie zwischen Flamingos und Pinguinen zu Vietnam-Kämpfern im Unterholz werden. Bis der Gesucht nach einem Schuss fällt. Worauf ein verängstigter Tiger kurz direkt in die Kamera blickt.

 

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