Locarno 19: BERGMÁL (Echo) von Rúnar Rúnarsson (Wettbewerb)

© Jour2Fête

Ein Haus brennt. Die Nachbarn stehen davor. Einer erzählt der Enkelin, dass er in diesem Haus zum ersten Mal mit ihrer Grossmutter getanzt habe. Dann geht er zum Besitzer hinüber und fragt ihn, warum er es angezündet habe.

Die Renovation sei zu teuer, ein Fertighaus aus Polen sei um einen Bruchteil zu haben und dann könne er gleich Touristen einquartieren. Ach ja, ob er immer noch Hühner halte? Er wolle seinen Gästen biologisches Frühstück servieren und brauche Eier.

Das ist eine von 59 Vignetten aus Island, mit denen Rúnarsson die Vorweihnachts- und Weihnachtszeit auf seiner Insel einfängt. Die meisten von diesen Szenen sind viel zu aufwändig, um komplett inszeniert zu sein. Und die meisten sind viel zu perfekt, zu gut ausgeleuchtet, zu wohlorganisiert, um nicht inszeniert zu sein.

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Bergmál ist einer dieser relativ neuen, unverschämten Hybriden, denen mit dem Begriff «Dokufiktion» nicht beizukommen ist. Filme, bei denen gerade die Inszenierung die Wirklichkeit verstärkt. Etwa in der allerletzten Sequenz zum neuen Jahr, mit einer Geburt, die klar echt ist, aber für die Kamera inszeniert, ausgeleuchtet, mit Einwilligung der Protagonisten.

Genau das macht einen guten Teil des unendlichen, sarkastischen Charme dieses Filmes aus, dass alle mitspielen. Nicht alle ganz freiwillig. Der demente alte Mann, der zu Weihnachten kurzen Besuch von seiner Tochter erhält, weiss wahrscheinlich nicht, dass er in dem Film mitspielt. Die Tochter sicher schon. Es sei denn, er werde wirklich von einem Schauspieler gespielt.

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Nach klassischem Dokfilmethos eine unzulässige Übergriffigkeit des Filmemachers. Im Rahmen dieses Film aber eine Selbstverständlichkeit. Denn bei vielen der 59 Sequenzen entsteht der Eindruck, da seien Einfälle oder reale Begebenheiten vor der Kamera wiederholt worden, unter Berücksichtigung aller nötigen Aspekte, nicht zuletzt der Stärke des Bildes.

Die ist Hammer. Meist ist die Kamera etwas auf Distanz, hin und wieder mit symmetrischer Zentralperspektive wie beim Österreicher Ulrich Seidl. Aber die Selbstentblössung, zu der Seidl seine Protagonisten treibt, bleibt hier aus.

Auch wenn ein Mann sich von seiner Frau beim Christbaumkauf anhören muss, er benehme sich blöder als seine hormongesteuerte Tochter, aber im Gegensatz zu ihm würden Teenager irgendwann erwachsen: In der letzten Einstellung der Sequenz, als er schon allein zwischen den Bäumchen steht, kann er sich erlösen, indem er heimlich zwei davon kauft.

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Viele der 59 Sequenzen sind wohl typisch isländisch. Aber kaum eine kommt einem nicht bekannt vor. Dafür sind manche so lakonisch auf die Pointe hin gebaut, dass hier nur eine als kleines Beispiel verraten werden soll:

Am Neujahrsmorgen schraubt ein Arbeiter an einem grossen Billboard an einer Überlandstrasse ein Nummernschild ab. Das Schild ermahnt die Autofahrer, sich anzugurten. Es zählt auf, wie viele Tote dieses Jahr wegen Gurtvernachlässigung schon zu beklagen waren. Und an diesem Neujahrsmorgen wird eben die Zahl mit «noch keine» ersetzt.

Die ganzen Absurditäten der Weihnachtszeit treffen auf reguläre Menschen und ihre Wünsche, Ängste, Bedürfnisse. Das ist oft ziemlich skurril, hin und wieder sarkastisch, aber nie zynisch, gerade weil eigentlich immer klar ist, dass die Protagonisten sich hier mitinszenieren. Nicht wider besseres Wissen, sondern fast immer – so wirkt es zumindest – im Wissen und die Wirkung, die sie erzielen.

Und manchmal braucht Rúnarsson dazu nicht einmal Protagonisten. In der ersten Einstellung entfalten sich durch die Scheibe einer Autowaschanlage die Waschbürstenrollen ballettartig wie nasse, textile Christbäume, um dann wieder zu erschlaffen nach getaner Arbeit.

Bergmál – Echo –,  das sind nicht nur erstaunlich unterhaltsame 79 Minuten, sondern auch verblüffend gehaltvolle.

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