Locarno 19: CAT IN THE WALL von Mina Mileva and Vesela Kazakova (Wettbewerb)

Irina Atanasova und Goldie/Boo © Activist 38

Kein Wunder sind so viele Briten für den Brexit, wenn die Bulgarinnen bereits den alten working class heroes wie Ken Loach die Arbeit wegnehmen…

Was die bulgarischen Dokumentarfilmerinnen Mileva und Kazakova hier in ihrem ersten Spielfilm veranstalten, sieht manchmal fast schon aus wie eine Parodie des Genres, mit dem Loach/Laverty das britische Exportkino über Jahrzehnte geprägt haben.

Allerdings ist die Perspektive leicht verdreht, und dies meist zum Vorteil des Films.

Another Shouting Match. Mit Angel Genov und Irina Atanasova © Activist 38

Die Architektin Irina ist mit ihrem Sohn Jojo und ihrem Bruder nach London gezogen, um, wie sie ihrem Bruder einmal eindrücklich in Erinnerung ruft, der Kurruption und dem Sozialschmarotzertum in der Heimat zu entkommen.

Sie hat eine kleine Wohnung gekauft in einem einst eleganten Wohnblock aus den fünfziger Jahren, in dem unterdessen vor allem Council Flats untergebracht sind, Sozialwohnungen für Sozialhilfebezüger.

Shouting Match… u.a. mit Angel Genov und Irina Atanasova © Activist 38

Irina beteiligt sich an Architekturwettbewerben und arbeitet in einer Bar. Ihr Bruder, ebenfalls Akademiker, hütet ihren kleinen Sohn und sucht einen Job, etwa als Lehrer. Allerdings werden in Grossbritannien zwar seine Uniabschlüsse anerkannt, nicht aber seine Arbeitserfahrung.

So schaffen die Filmemacherinnen eine überraschende neue Perspektive im altbekannten analytischen Gefüge des britischen Sozialkinos. Es sind die gebildeteten, arbeitswilligen EU-Bürger, welche sich hier im Gefüge der Abgedrängten und Ausgemusterten zu bahupten suchen.

Wo ist bloss die Katze? Angel Genov und Irina Atanasova © Activist 38

Zum Beispiel im Streit um die Katze, welche sie sie nach Tagen bei sich aufgenommen haben, weil sich offenbar niemand um sie kümmerte. Kaum ist das Tier ordentlich gechippt und dokumentiert, stehen eine junge schwarze Frau mit Baby, ihr verwahrloster, aggressiver Freund und eine übergewichtige Zwölfjährige vor der Tür und bezichtigen sie des Katzendiebstahls.

Während des Streits flüchtet die Katze in ein Loch hinter dem Boiler in der Küche und bleibt in der Wand versteckt. Ein Bild das der Film auch für Irina setzt, die realisiert, dass sie sich als Wohnungsbesitzerin (mit Leasing-Vertrag) zwar nicht gegen die vom Council beschlossenen Renovationsmassnahmen wehren kann, im Gegensatz zu den Sozialhilfebezügern links und rechts aber massiv für die Kosten zur Kasse gebeten wird.

Sollte sie sich weigern, würde sie mehr oder weniger in ihrer Wohnung eingemauert, erklärt ihr einer der freundlicheren Nachbarn scherzend.

Angel Genov und Irina Atanasova © Activist 38

Cat in the Wall nutzt das von Loach/Laverty oder auch Mike Leigh immer wieder angewandte Prinzip, politisch-ökonomische Vorgänge am Beispiel einleuchtender Lebenssituationen so zu demonstrieren, dass die Ungerechtigkeiten offensichtlich werden.

Dabei setzen die beiden Dokumentaristinnen allerdings auf einen leichten Ton, eine Beschwingtheit bei ihren Protagonisten, welche das Drama lange unter der Oberfläche hält. Insbesondere Irina ist ganz offensichtlich nicht umzubringen. Die Frau hat eine kämpferische Energie, die ansteckt.

Viele der Episoden dieses Films finden eine solidarische, nachbarschaftliche Auflösung. Andere bleiben stecken im umgedrehten Alltagsrassismus. Und dann sind da noch die paar Szenen, die aus dem Drehbuch zu unvermittelt auf die Leinwand gerutscht sind, etwa eine Brexit-Diskussion bei der ersten solidarischen Versammlung der kampfwilligen Wohnungsbesitzer.

Irina Atanasova und Orlin Asenov © Activist 38

Die Mischung aus Wut, Analyse und versteckter Hoffnung auf jene verschwindenden britischen Solidaritäts-Qualitäten, die auch Ken Loach in seinen Filmen immer wieder beschwört, hat zu einem vergnüglichen Film geführt. Aber auch zu einem Film, der keine allzu grosse Halbwertszeit haben dürfte. Zu viel von dem hier Gesehenen und Vorgeführten kommt einem entweder bekannt vor, oder verdankt sich dem gegen-den-Strich-bürsten von Vorurteilen.

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