BERLINALE 2020: SCHWESTERLEIN von Stéphanie Chuat & Véronique Reymond (Wettbewerb)

Nina Hoss © Vega Film

Gleich mit ihrem ersten grossen Spielfilm, «La petite chambre» von 2010, gewannen die beiden Westschweizer Freundinnen Chuat und Reymond eine ganze Reihe von Preisen, darunter den Schweizer Filmpreis. Nach einer Fernsehserie und dem erfolgreichen Dokumentarfilm Les dames vor zwei Jahren haben sie sich nun mit ihrem zweiten Spielfilm in den internationalen Filmhimmel katapultiert.

Nina Hoss ist ein deutscher Filmstar, viele davon gibt es ja nicht. Aber mit Filmen wie Barbara von Christian Petzold holte sie sich breite Anerkennung. Lars Eidinger ist der Star der Berliner Schaubühne; sein markantes Gesicht hat über dreissig Filmrollen geprägt, ganz kleine, ganz böse, und ganz internationale, unter anderem bei Olivier Assayas, mit Juliette Binoche und Kristen Stewart in The Clouds of Sils Maria oder Personal Shopper.

Lars Eidinger © Vega Film

Dem Magnetismus der beiden Darsteller kann man sich kaum entziehen, schon gar nicht, wenn sie, wie in Schwesterlein, sozusagen zu einem symbiotischen Organismus verschmelzen.

Nina Hoss ist Lisa, die Zwillingsschwester von Sven (Lars Eidinger), dem Star der Berliner Schaubühne. Das Theater war auch ihre Welt, sie hat erfolgreiche Stücke geschrieben, ihr Ex David (Thomas Ostermeier) ist Svens Regisseur seit vielen Jahren.

Aber Nina hat Martin (Jens Albinus) geheiratet, ist mit ihm nach Leysin in der Schweiz gezogen, wo er eine renommierte, teure Privatschule leitet, sie hat zwei Kinder.  Temporär soll das sein, die Rückkehr der Familie nach Berlin nach ein paar Jahren ist ausgemacht. Zumindest für Lisa.

Jens Albinus, Nina Hoss © Vega Film

Aber dann reist sie überstürzt alleine. Bei Sven ist eine tödliche Leukämie festgestellt worden, eine Knochenmarktransplantation wird versucht.

In der ersten Einstellung des Films sehen wir Lisa auf einem Spitalbett, ihr wird Blut abgenommen. In der nächsten Einstellung sehen wir Sven im Isolationszimmer am Tropf. Das Bild ist so aufdringlich wie stark: In den beiden Geschwistern fliesst das gleiche Blut.

Dem Kampf um das Leben ihres Zwillingsbruders ordnet Lisa alles unter. Sie nimmt ihn zur Erholung mit nach Leysin, sie bemüht sich krampfhaft, das Sterben des Bruders zu verdrängen.

Nina Hoss, Lars Eidinger © Vega Film

Darin gleicht Lisa den beiden Hauptfiguren von La petite chambre von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond. Damals war es der von Michel Bouquet gespielte Edmond, der sich die Schwächen seines Alter nicht eingestehen wollte und die Hilfe von Rose (Florence Lore Caillet) ablehnte, während diese wiederum den Tod ihres Kindes so sehr verdrängt hatte, dass sie nur noch ein Schatten ihrer selbst war.

Schwesterlein ist ein starkes Drama, ein Ensemble-Film. Marthe Keller hat mehrere grossartige und rührend komische Auftritte als ziemlich überforderte Mutter der Zwillinge. Die Dynamik zwischen Lisas Mann und Sven ist eben so spannend wie die zwischen Sven und den Kindern, die ihren Onkel lieben.

Marthe Keller © Vega Film

Am stärksten aber ist die Zeichnung der Verbindung zwischen den Geschwistern. Lichtsignale mit der Nachttischlampe, gemeinsame Erinnerungen, Svens ruhige Feststellung: «Du hast aufgehört zu schreiben, an dem Tag, als ich meine Diagnose bekam», und Lisas stillschweigende Bestätigung mit einem Blick.

Schwesterlein ist ein intensiver, starker Film. Lisas verzweifelte Versuche, ihren Bruder mit der Hoffnung auf ein eigens von ihr für ihn geschriebenes Stück am Leben zu halten, ist dabei vielleicht das einzige nicht ganz überzeugende Element.

Vielleicht, weil wir Lisa als Autorin nie kennenlernen. Nina Hoss ist am stärksten, wenn Lisa reagiert, wenn sie verweifelt, sich freut, oder wütend wird. Also immer dann, wenn zwischen den Figuren eine Spannung entsteht. Als behauptete Autorin allerdings müsste sie zu einem aktiven Energiezentrum werden, dafür ist die Figur aber nicht angelegt.

Verleih: Vega Distribution,
Kinostart Deutschweiz: 23. April 2020

Véronique Reymond © Vega Film
Stéphanie Chuat © Vega Film

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