FAREWELL PARADISE von Sonja Wyss

Abflug von den Bahamas ‚Farewell Paradise‘ von Sonja Wyss © Basalt Film

Die Vertreibung aus dem Paradies war wohl eher eine Flucht. So genau erinnert sich keine der vier Schwestern daran, warum sie sich nach den wunderbaren Kindheitsjahren auf den Bahamas plötzlich im Flugzeug in die Schweiz wiederfanden.

Schon gar nicht Sonja Wyss, die als brüllendes Kleinkind im Flieger ihrer mit dem Transport beauftragten, auch erst zwölf Jahre alten Schwester das Leben noch schwerer machte.

Jahrzehnte später setzt Sonja ihre Mutter Dorine, ihren Vater Ueli und ihre drei älteren Schwestern schön ausgeleuchtet vor die Kamera und stellt ihnen Fragen.

Das Ausgangsmaterial für diesen ziemlich grossartigen, schmerzlichen Dokumentarfilm sind die standardisierten «Talking Heads» ­­– diese allerdings äusserst attraktiv als Ganzkörpermenschen inszeniert – und Familienfotos. Und natürlich die Filmemacherin als bohrende Instanz.

Aber Farewell Paradise nimmt sein Publikum vom ersten Moment an gefangen. Schon das Setup der etwas ängstlich und liebevoll abwartenden älteren Dame und des eher trotzigen, aber präsenten älteren Mannes weckt die Neugier.

Ueli, Dorine ‚Farewell Paradise‘ von Sonja Wyss © Basalt Film

Warum sehen wir die beiden im Split-Screen nebeneinander? Wer sind sie?

Sonja Wyss simuliert über die Montage (Katarina Turler) der einzelnen Interviewmomente mit ihren Familienmitgliedern diesen eigenartigen Prozess, über den sich ein halbwegs kohärenter Blick auf die gemeinsame und getrennte Vergangenheit überhaupt erst zu formen beginnt.

Es dauert ganze zwanzig Minuten, bis wir als Publikum erfahren, was die überstürzte Abreise der Mutter mit ihren Töchtern von den Bahamas auslöste. Und fast noch einmal so lange, bis wir eine Vorstellung davon haben, wie der Vater das damals erlebte und vor allem heute sieht.

Dorine auf den Bahamas ‚FArewell Paradise‘ von Sonja Wyss © Basalt Film

Vier Kinder, zweitweise verteilt auf vier Pflegefamilien. Eine überforderte, alleinerziehende Mutter in der kalten, winterlichen Schweiz. Ein zweiter Anlauf zu einem gemeinsamen Leben im Einfamilienhaus: Das fragmentierte Bild des wyssschen Geschwisterlebens, das wir als Zuschauer bekommen, geht deutlich über andere Scheidungskinder- und Patchworkfamiliengeschichten hinaus.

Zugleich aber zeugen vor allem Mutter Dorine und die drei älteren Schwestern in ihrer selbstbewussten, abgeklärten und liebevollen Haltung der jüngsten gegenüber davon, dass wir nicht auf lauter zerstörte Leben zurückblicken.

Farewell Paradise ist keine Verdingkindergeschichte, kein grosses Unrechtsdrama, sondern eine Art Familiensteinbruch mit Sedimenten, Versteinerungen, Sprengungen und überraschenden Fundstücken.

Sonja Wyss ‚Farewell Paradise‘ © Basalt Film

Für die Filmemacherin mag das Autotherapie gewesen sein, Familienstellen, Aufarbeiten. Aber der Film ist unendlich weit von einschlägigen Psychotrips entfernt. Keine Larmoyanz, keine direkten Anklagen, wenig, dafür aber nachvollziehbare Konfrontation. Vor allem aber ist das nun ein Dokument zum Andocken.

Wer in ähnlicher generationeller Konstellation in der Schweiz aufgewachsen ist, findet Spuren seiner oder ihrer Kindheit. Erinnerungsfetzen tauchen auf über den eigenen Blick auf Nachbarskinder, oder jenen der Nachbarn auf die eigene Familie.

Und am Ende des Films weitet sich der Blick, führt in eine Gegenwart mit Zukunft und der nächsten Generation.

Farewell Paradise ist ein Abschied von einer Kindheit, die im Rückblick anders aussieht als im jeweiligen individuellen Erleben. Und damit ein Film, den wir alle kennen, fürchten, und lieben.

            • Noch heute via Webseite der Solothurner Filmtage zu sehen
            • Nominiert für den Prix Soleure 2021
            • Noch keine CH-Verleih

Kommentar verfassen