THE DIG von Simon Stone

Carey Mulligan als Edith Pretty in ‚The Dig‘ © Netflix

Wenn die Zeit zerbricht, wächst die Sehnsucht nach Beständigkeit. Unter diese Behauptung könnte man diesen wunderbar ruhigen Netflix-Film stellen.

The Dig spielt im Jahr 1939 im britischen Suffolk. Während Ausgräber Basil Brown (Ralph Fiennes) mit Gutsherrin Edith Pretty auf deren riesigem Landstück ein paar vielversprechende künstliche Hügel begutachtet, donnern Flugzeuge in Formation über ihre Köpfe hinweg. Die Royal Air Force trainiert für den Luftkrieg gegen Hitler.

Carey Mulligan und Archie Barnes in ‚The Dig‘ © Netflix

Die energische, bodenständige und ziemlich reiche junge Witwe vermutet historisch interessante Gräber unter den Hügeln auf ihrem Anwesen. Der akademisch ungeschulte, aber erfahrene und hartnäckige Ausgräber, den sie zur Untersuchung bestellt hat, geht mit ihr einig. Allerdings dringt er darauf, eher der Erfahrung und der Logik folgend zu graben, während sie ihrem Bauchgefühl vertrauen möchte.

Ralph Fiennes als Basil Brown in ‚The Dig‘ © Netflix

Basil Brown ist eine historische Figur, ebenso wie Edith May Pretty. Autor John Preston hat den beiden in seinem historischen Roman «The Dig» 2007 ein Denkmal gesetzt. Pretty und Brown gelten als die treibenden Kräfte hinter dem spektakulärsten archäologischen Fund in britischem Boden, den Grabstätten von Sutton Hoo in Suffolk, mit einem kompletten angelsächsischen Schiffsgrab.

Der Film von Simon Stone nutz nun allerdings diesen historischen Hintergrund vor allem, um menschliche Beziehungen und Träume zu verweben, als Monument für das menschliche Bedürfnis, so etwas wie Kontinuität im Leben zu finden, über Tod, Schmerz und Verlust hinaus.

Das macht diesen Film auf unspektakuläre Weise schön und melancholisch.

Da steht als Leuchtfeuer über allem die von Brown und Pretty geteilte Überzeugung, das die Spuren der Vergangenheit gefunden und erhalten werden sollen, für die Zukunft.

Grabung von Sutton Hoo in ‚The Dig‘ © Netflix

Wir sollten nicht vergessen, dass hier jemand begraben wurde, erklärt Edith Pretty einmal. Da weiss sie längst, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. «It is life, that is revealed», antwortet Brown. Es sei Leben, das sich hier zeige: «That is why we dig.» – darum graben wir.

Um Edith Pretty und Basil Brown versammelt der Film eine ganze Reihe von knapp, aber präzise gezeichneten Menschen. Da ist Prettys junger Sohn Robert, der seinen grossen erwachsenen Cousin Rory Lomax (Johnny Flynn) vergöttert, aber auch im geduldigen Basil Brown einen Vaterersatz findet.

Lily James als Peggy Piggott in ‚The Dig‘ © Netflix

Da ist Peggy Piggott (Lily James), eine junge Archäologin, die erst auf der Grabung von Sutton Hoo herausfindet, dass ihr Ehemann Stuart (Ben Chaplin) mit seinen männlichen Kollegen glücklicher ist, als mit seiner jungen Frau. Und da ist May Brown, die zuverlässige, liebevolle Frau von Basil, welche ihn geduldig immer wieder ziehen lässt, als Hobby-Astronom und als sich für wenig Geld verdingender Ausgräber im Dienste ehrgeiziger Archäologen, die normalerweise jeden von Browns Funden ihrer eigenen Glorie zuschlagen.

Edith Pretty, ihr Sohn und bald auch die von ihrem Mann enttäuschte und schon wieder frisch verliebte Peggy müssen damit leben, dass Rory Lomax sein Aufgebot erhalten hat und bald mit den schlecht ausgebildeten und ausgerüsteten jungen Piloten der RAF in den Luftkampf ziehen wird.

Basil & May Brown (Ralph Fiennes und Monica Dolan) © Netflix

Die Ausgrabung des Schiffes und der Schätze des Grabes werden zu einem Wettlauf gegen den drohenden Kriegsausbruch. Und als die Kriegserklärung übers Radio kommt, ist Brown bereits damit beschäftigt, die Überreste des Schiffes wieder der schützenden Erde anzuvertrauen. Während Edith Pretty mit einem raffinierten Publicity-Event dafür gesorgt hat, dass «Sutton Hoo» nicht einfach zu einem Erfolg des British Museums und der offiziellen Archäologie wird – auch wenn sie den gesamten Schatz dem Museum schenkt.

Die abenteuerliche Geschichte um archäologische Leidenschaft und den Versuch, das Leben in der Vergangenheit für die Zukunft zu finden und zu behalten, hat Simon Stone sehr einnehmend umgesetzt. Neben die Grabungsromantik des 19. Jahrhunderts setzt er den akademischen Hahnenkampf, eine Spur britische Gartenverträumtheit und gar eine Prise «Downton Abbey»-Gutsfrauenloyalität.

Viel Landschaft, viel Zeitkolorit, viel Regen, Erde und Schlamm. Und, als stärkstes und auffälligstes Stilmittel in einem britischen «Period-Drama», zeitlich versetzte Dialoge, die mit der Bildebene ein dichtes Webmuster ergeben. Figuren erzählen und erklären, während sie noch etwa anderes tun oder sich irgendwohin bewegen. Das ist nie so verwirrend, dass man sich nicht mehr zurechtfinden würde. Aber immer wieder so irritierend, dass man innerlich einen Schritt zurücktritt und versucht, den Überblick zu bekommen. Wie Basil Brown, wenn er das vermutete Gräberfeld in der Wiese und den umliegenden kleinen Hügeln skizziert.

Der Krieg im Anflug – ‚The Dig‘ © Netflix

«Wir spielen hier im Dreck, während sich das Land auf den Krieg vorbereitet», sagt eine der Figuren. Und zur Relativierung drängt sich unwillkürlich der Gedanke an die Jahrhunderte auf, die über die Funde von Sutton Hoo in unsere Gegenwart hineinreichen.

Wenn das nicht tröstlich genug ist, dann hilft vielleicht der völlig überflüssige und vom Film in keiner Weise aufgenommene Hinweis, dass die grosszügige Peggy Pigott, die junge Archäologin mit dem Verständnis für ihren Mann und dem Herzen für den todgeweihten Piloten, eine Tante war von Buchautor (und einstigen «Sunday Telegraph»-Fernsehkritiker) John Preston.

Und schliesslich gehören sämtliche Szenen von Carey Mulligan mit Ralph Fiennes zu jenen unzerstörbaren Artefakten, die das Leben lebenswert machen.

Seit 28. Januar 2021 auf Netflix

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