MEMORY BOX  von Joana Hadjithomas & Khalil Joreige (Berlinale 2021, Wettbewerb)

Manal Issah © Haut et Court – Abbout Productions – Micro Scope

Am Weihnachtsabend wird in der Wohnung der dreizehnjährigen Alex im tief verschneiten Montreal ein grosses Paket angeliefert, adressiert an ihre Mutter Maia. Nach einem Blick auf den Absender würde die zu Besuch weilende Grossmutter die Paketannahme am liebsten verweigern – was natürlich erst recht die Neugier von Alex weckt.

Noch am gleichen Abend donnert der Karton in der Abstellkammer vom Gestell und ergiesst seinen Inhalt auf den Boden: Audiokassetten, Notizhefte, Tagebücher, Postkarten, Fotos.

Wie sich herausstellt, sind das all die Dinge, welche Alex’ Mutter mehr als dreissig Jahre früher und über Jahre hinweg von Beirut aus an ihre beste Freundin geschickt hatte.

Während Maia sich der Erinnerung verweigert, wühlt sich ihre Tochter heimlich Nacht für Nacht durch die multimedial erfasste Adoleszenz ihrer Mutter, die mitten im Bürgerkrieg in Beirut ihre erste grosse Liebe erlebte und den ganzen alltäglichen Wahnsinn, der in der allmählichen Zerstörung der Stadt gipfelte.

Hadjithomas und Joreige gehen von den Erinnerungen aus, welche Joana Hadjithomas seinerzeit selber an ihre beste Freundin geschickt hatte. Und von der Neugier, welche die dreizehnjährige Tochter der Filmemacher auf das Material entwickelte.

‚Memory Box‘

Der Film stürzt sich denn auch nach einer Social-Media-Exposition, in der sich Alex via Smartphonevideo mit ihren Freundinnen und Freunden austauscht, in eine veritable Reizüberflutung auf allen Kanälen.

Während Alex die Notizen ihrer Mutter liest, die Fotos anschaut und mit dem Telefon abknipst, die Kassetten hört, welche ihre Mutter damals für ihre Freundin besprochen hat, teilt sie ihre ganze Verblüffung, Freude und Erschütterung über die wilde, tragische Teenagerzeit ihrer Mutter mit ihrem eigenen Freundeskreis, im multimedialen Dauerchat.

Diese Parallelsetzung der einstigen überfliessenden Freundinnenkommunikation mit der neuen Dauerrückversicherung via Smartphone ist durchaus interessant.

Sie wird aber von den Filmemachern – durchaus mit Absicht – zum Overkill gebündelt. Die auf Alex einstürmenden Informationen bringen ihr und dem Publikum zwar ihre Mutter näher, überfordern aber zugleich auf jeder Ebene.

Dem wirken die Filmemacher schliesslich entgegen, indem sie die Kanäle zusammenfliessen lassen. Fotos verwandeln sich in animierte Sequenzen, Rückblenden und Musik schaffen eine kontinuierliche zweite Zeitebene in diesem kriegszerrissenen Beirut der 1980er Jahre.

Clémence Sabbagh, Paloma Vauthier, Rim Turki © Haut et Court – Abbout Productions – Micro Scope

Je tragischer sich die Familien- und Liebesgeschichte der jungen Maia entwickelt, desto ruhiger wird der Erzählfluss des Films. Bis sich gegen Schluss hin alles auf eine allzu tröstliche Weise abrundet.

Das ist nicht nur sehr effizient inszeniert und drehbuchmässig poliert, der Film ist auch eine Art Lehrstück zum Umgang mit der aktuellen Multikanalrealität, welcher das Kino meist noch sehr wenig entgegenzusetzen hat.

Auch wenn viele zeitgenössische Filme, vor allem Thriller, den Second Screen, die Informationsüberlagerungen und die Gleichzeitigkeit von Eindruck und mehrfacher Interpretation fast routinemässig integrieren, gibt es doch erst wenige filmische Versuche, das alles nahtlos mit klassischen Erzähl- und Erlebnissituationen zu verknüpfen.

Joana Hadjithomas, Khalil Joreige © Haut et Court – Abbout Productions – Micro Scope

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