PETITE MAMAN von Céline Sciamma (Berlinale 2021, Wettbewerb)

‚Petite Maman‘ von Céline Sciamma: Joséphine Sanz, Gabrielle Sanz © Lilies Films

Kindliches Spiel, «So tun als ob» und Filmemachen können magische Wirkung entfalten, das Herz berühren, oder Angst auslösen. Wir wissen ja nie, wem wir tatsächlich begegnen, wenn wir uns zu den Bildern in uns selber zurückziehen.

In den wieder überaus sorgfältig gestalteten siebzig Minuten von Céline Sciammas jüngstem Film braucht allerdings sich niemand zu fürchten, obwohl hier weder Trauer noch Schmerz ausgespart werden und schon gar nicht die kindlichen Ängste, die wir tagsüber so gut verdrängen.

Die etwa achtjährige Nelly verabschiedet sich im Altersheim sehr ernsthaft von den Zimmernachbarinnen ihrer eben verstorbenen Grossmutter. Dann fährt sie im Auto mit ihrer Mutter zum Haus der Grossmutter, das sie ihn den nächsten Tagen zusammen mit Nellys Vater räumen wollen.

Während Nelly von den Gegenständen und Räumen im Haus der Grossmutter Abschied nimmt, fällt ihrer Mutter Marion die letzte Begegnung mit dem Heim ihrer Kindheit sichtlich schwer.

Die Fragen der Tochter beantwortet sie liebevoll, aber traurig, auch die nach der Hütte, die sie einst als kleines Mädchen im Wald hinter dem Haus gebaut hatte.

Aber am nächsten Morgen findet Nelly nur noch ihren Vater in der Küche. Der Mutter habe es zu sehr wehgetan, sie sei schon nach Hause gefahren. Er und Nelly würden das Haus fertig räumen.

Auf ihrem nächsten Ausflug in den Wald hinter dem Haus trifft Nelly auf ein gleichaltriges Mädchen, das sie bittet, ihr beim Bau einer Hütte zu helfen. Das Mädchen heisst Marion.

Céline Sciamma vermeidet alle ominösen oder raunenden Töne. Bis auf den einen oder anderen Windstoss im Wald gibt es keine spür- oder sichtbaren Grenzlinien.

Das ist kein Film, der von Überraschungen lebt, jedenfalls nicht so, dass man sie nicht vorab ahnen würde und sollte.

Überraschend sind viel mehr die spielerischen Feinheiten, die sich ergeben. Kein Zeitreiseparadox lenkt uns vom Fühlen ab, keine Spielchen mit Veränderungen in der Vergangenheit, die sich in der Zukunft auswirken würden.

Stattdessen evoziert Sciamma mit beglückender Leichtigkeit den emotionalen Kraftakt, den es bedeutet, sich in jemand anderen zu versetzen. Und die Grenzen, die dabei überwunden werden wollen, die eigenen.

Wenn Nelly im Haus von Marion die Schlafzimmertür öffnet und dort deren schlafende Mutter auf dem Bett liegen sieht, ist das vorerst genug. Sie schliesst die Tür leise und verabschiedet sich etwas abrupt von ihrer neuen Freundin. Sie müsse ins eigene Haus zurück.

Emotional ist das alles so stimmig und komplex wie die unendlich viel kompliziertere Anlage von Portrait de la jeune fille en feu. Aber das erzählerische Können von Céline Sciamma kommt mit kindlicher Direktheit genau so gut klar, wie mit andeutungsreicher Raffinesse. Das hat sie schon vor Jahren mit dem Drehbuch für Ma vie de Courgette bewiesen.

Petite Maman ist ein Studiofilm, der nicht so aussieht, perfektes Handwerk mit grösster Detailtreue. Mit ihrem Team hat Sciamma jeden Lichtschalter im Haus platziert, die Farbe der Tapeten der filmischen Palette angepasst, die Teppiche und Möbel ausgesucht, um ihre eigene Kindheit wiederaufzubauen.

Zu den beglückendsten Momenten beim Aufbau des Sets, erzählt sie in den Unterlagen zum Film, habe die Woche gehört, in der eine Gruppe Erwachsener die Waldhütte ihrer Kindheit ins Laub zwischen die Bäume gebaut habe.

Das umreisst diesen Film wunderbar. Er ist eine Rückkehr in jene Zeit unseres Lebens, die nur aus Gegenwart und unendlich viel Zukunft bestanden hat. Eine Rückkehr aber mit all den unterdessen gemachten Erinnerungen und Erfahrungen.

Céline Sciamma © Lilies Films

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