DRIVE MY CAR (Doraibu mai kâ) von Ryûsuke Hamaguchi

Hidetoshi Nishijima, Tôko Miura © Bitters End

Dass einem ein orangeroter Saab Turbo und Tschechows Onkel Wanja über drei Stunden hinweg gleichermassen ans Herz wachsen können, musste auch erst mal bewiesen werden.

Und auch, dass man aus einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami mit dieser Leichtigkeit einen Film voller Perspektive machen kann. Hamaguchi kann es.

Und die Überraschungen. Da fällt zum Beispiel in der achtunddreissigsten Minute des Films ein lupenreiner, fremder Satz auf Schweizerdeutsch:

«Hey, Waffelgrind! Dreih dr Hahne zue!»

Hidetoshi Nishijima © Bitters End

Das gehört zum Inszenierungskonzept der Hauptfigur des Films, dem Schauspieler und Theaterregisseur Yûsuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima). Onkel Wanja textgetreu, mit einzelnen fremdsprachigen Schauspielerinnen und Schauspielern, deren Text dann auf japanisch und in anderen Sprachen projiziert wird. Später gar mit einer Darstellerin, welche koreanische Zeichensprache spricht.

Reika Kirishima, Hidetoshi Nishijima © Bitters End

Kafukus Frau Oto (Reika Kirishima) schreibt, Fernsehdramen und Serien, und sie holt sich die Inspiration in tranceähnlichen Momenten beim ehelichen Sex. Weil sie danach das meiste wieder vergisst, erzählt ihr ihr Mann am nächsten Tag, wie sich ihre Geschichten entwickeln.

Hinter der Ehe der beiden versteckt sich mehr. Sie haben eine Tochter verloren und daraufhin auch die gemeinsame Arbeit an Fernsehprojekten aufgegeben. Und Oto hat auch Sex mit anderen Männern, wie Kafuku herausfindet.

Nur erzählt der Film das alles nicht so direkt. Im ersten Teil lernen wir die beiden als Paar kennen, ihre erzählerische Präzision und Detailtreue. Und später, nachdem Oto an einer Thrombose gestorben ist, nimmt Kafuku einen Auftrag als residenter Gastregisseur in Hiroshima an.

Hidetoshi Nishijima, Tôko Miura © Bitters End

Dort muss er allerdings auf seine längst zur Arbeitsroutine gewordenen langen Stunden am Steuer seines Saab verzichten. Bei Fahren lernt er seine Texte, hört die Vorgabekassette, die ihm seine Frau einst eingesprochen hatte. Jetzt bekommt er eine junge Fahrerin zugeteilt, weil er aus Versicherungsgründe vom Theater aus nicht selber fahren darf.

Driving Miss Daisy? Für Misaki Watari (Tôko Miura), die junge Fahrerin, muss es sich zunächst so anfühlen. Denn Kafuku will eigentlich unbedingt selber fahren, lässt sich nur zögernd auf ihre Dienste ein. Bis er sich von ihrer Präzision und überaus sanften Fahrtechnik überzeugt hat.

Die eigenartige Parallele zwischen den fahrtechnischen Fähigkeiten der jungen Frau und der Präzisionsarbeit am Tschechow-Text, mit der Kafuku seine Schauspielerinnen und Schauspieler fast zur Verzweiflung treibt, gehört zu den vielen unaufdringlich verbindenden Momenten in diesem Film.

Masaki Okada, Hidetoshi Nishijima © Bitters End

Das Beziehungsnetz mit Anziehungen und Abstossungen wird ausgesprochen vielseitig und fein gesponnen. Der junge Fernsehstar, den Kafuku als Nebenbuhler erlebt, taucht viel später zum Vorsprechen für die Wanja-Inszenierung in Hiroshima auf, worauf Kafuku ihn, der sich für eine kleine Rolle beworben hat, mit der Hauptrolle bestraft, die er sonst selbst spielt.

Es gibt immer wieder neue Überraschungen, wenn es um das Verhältnis der Figuren untereinander geht in diesem Film. Und jeder dieser Momente verändert die Wahrnehmung dessen, was wir schon gesehen haben, manchmal ziemlich radikal.

Sonia Yuan, Yoo-rim Park © Bitters End

Drive My Car ist ein Film voller Leben, voller Abschied, voller Perspektivenwechsel, mit einem grossen Herz für jede der Figuren und mit einer trotz ihrer fragmentierten Texttreue nie schulbuchmässigen Annäherung an Tschechows «Onkel Wanja».

Neben Shakespeare und «Warten auf Godot» (ein Stück, das im Film auch die Kafuku-Interpretation bekommt) gibt es wohl nur wenige Theatertexte, die dermassen global und universal an unterschiedliche Bildungsbürgergesellschaften andocken. Dass das funktioniert, auch als interkultureller Brückenschlag, ist eine weitere subtile Parallelführung des Films, eine Illustration des Prinzipes der interkulturellen Mehrsprachigkeit – und der einstigen eurozentrierten Kulturexporthegemonie, die sich in solchen Zusammenhängen wie von selbst in Frage stellt.

Hidetoshi Nishijima © Bitters End

In erster Linie aber ist Drive My Car eine Lektion im vernetzten Fühlen. Denn keine der Figuren schafft ein stimmiges Bild alleine, alle brauchen den Blick der anderen, um auch nur ansatzweise etwas zu verstehen.

Was wiederum eine Definition des kunstgerechten Kinoerlebnisses sein könnte.

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