MONTE VERITÀ von Stefan Jäger

Hermann Hesse (Joel Basman), Maresi Riegner als Hanna Leitner, Julia Jentsch als Ida Hofmann und Max Hubacher als Otto Gross © DCM

Der Monte Verità, ein Hügel bei Ascona am Lago Maggiore, ist legendär. Da trafen sich schon in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts Aussteigerinnen, Freigeister, Künstlerinnen und Reformer. Mit seinem aufwändigen Kostümfilm Monte Verità erweckt Stefan Jäger die Epoche nun zu Leinwandleben.

Den Einheimischen im Fischerdorf Ascona waren sie mehrheitlich ein Dorn im Auge. Die Spinner auf dem Hügel tanzten nackt auf der Wiese, bauten Gemüse an und verbreiteten Ideen, welche noch mehr Spinner aus der halben Welt anzogen.

Gartenarbeit auf dem Berg der Wahrheit © DCM

Etwa die us-amerikanische Pionierin des Ausdruckstanzes, Isadora Duncan. Oder den jungen Dichter Hermann Hesse – im Film verkörpert von Joel Basman. Oder den jungen Arzt und Psychiater Otto Gross (Max Hubacher), der mit der Pianistin Ida Hofman (Julia Jentsch) und deren Partner und Mitgründer der Kolonie Monte Verità, Henri Oedenkofen, (Michael Finger) auf dem Hügel ein Sanatorium aufgebaut hat.

Zu diesen historischen Figuren lässt der Film nun die fiktive junge Mutter Hanna Leitner stossen. Hanna, verkörpert von Burgschauspielerin Maresi Riegner. Hanna flüchtet aus einer grossbürgerlichen Ehe, lässt ihren Mann und zwei Töchter in Wien zurück, um bei Otto Gross einen Weg aus ihren Depressionen zu finden.

Maresi Riegner als Hanna Leitner © DCM

Was sie findet, ist eine Gemeinschaft, die auf Eigenverantwortung und Solidarität setzt. Auf künstlerische, persönliche und sexuelle Freiheit, auch und gerade für die Frauen.

Stefan Jäger und sein Team haben mit einem relativ bescheidenen Budget prächtige historisierende Tableaus geschaffen. Die Kameraarbeit von Daniela Knapp ist eindrücklich; die beiden Haupthäuser auf dem Monte Verità, die längst moderneren Bauten gewichen sind, wurden auf einer Waldlichtung im Maggiatal nachgebaut, ein unberührteres Dorf steht für das noch nicht mondänisierte Ascona, Kostüme und Ausstattung sind liebevoll auf 1906 getrimmt.

Max Hubacher als Otto Gross © DCM

Ein paar Probleme haben der Film und das Drehbuch von Kornelija Naraks allerdings auch. Erzählt wird in Vor- und Rückblenden, Hannas neues Leben auf dem Monte Verità kontrastiert mit dem alten in Wien.

Szenen, in denen ihr Ehegatte ihr den Umgang mit dem Fotoapparat verbietet, oder mit ihr wegen ihrer «Hysterie» zum Arzt geht (wo ihr in einer Rückblende andeutungsweise gar die damals verbreitete, aber zu jeder Zeit übergriffige und absurde Genitalmassage angetan wird), wechseln ab mit Momenten der langsamen Befreiung auf dem Monte Verità.

Hier legt Hanna das geistige und das körperliche Korsett ab und beginnt, mit der Fotokamera einen künstlerischen Ausdruck zu finden. Schliesslich wird sie gar unabhängig genug, um sich kritisch mit den zweifelhaften Methoden ihres Arztes Otto Gross auseinanderzusetzen.

Maresi Riegner als Hanna Leitner © DCM

Dass nicht nur Rückblenden das Geschehen ergänzen und kommentieren, sondern auch ein Off-Monolog von Hanna an ihre in Wien zurückgelassenen Töchter, greift mit wenig Eleganz in den Erzählfluss ein. Das gleiche gilt für einzelne Dialoge, die sich in ihrem Erklär-Furor eher ans Publikum richten als an die Gesprächspartner.

Das eigenartigste Problem des Films kommt allerdings unerwartet: Die Darstellung der Restriktionen im alten Leben der Hanna wirkt auf ein heutiges Publikum viel exotischer als die Aufbruchsmomente und Freiheitsgedanken ihrer neuen Freundinnen und Freunde. Das nimmt Hannas Entwicklung einen Teil der Gefährlichkeit, unterspielt den Mut, den ihre Selbstbefreiung fordert.

Hanna (Maresi Riegner) und Ida (Julia Jentsch) vor dem Photographieladen © DCM

Monte Verità ist ein prächtiger, nachvollziehbarer Film, mit seinem lokalen Bezug ideal für die Piazza Grande in Locarno. Die kurzen Einblicke in die Beweggründe und Leben der Reform-Pioniere sind anregend und machen Lust auf weitere Lektüre ein.

Aber was sich da genau an gesellschaftlichen Verwerfungen und Veränderungen abzeichnete in den ersten Jahren des letzten Jahrhunderts, das macht Stefan Jägers Film nicht wirklich fassbar.

Da wäre etwa ein Wiedersehen mit David Cronenbergs A Dangerous Method von 2011, in dem Otto Gross, gespielt von Vincent Cassel, auch einen kleinen Auftritt hat, deutlich weiterführend. Aber auch anstrengender.

Vincent Cassel war Otto Gross in David Cronenbergs ‚A Dangerous Method‘ von 2011. Im Hintergrund Michael Fassbender als Carl Gustav Jung © Universal

Kommentar verfassen