CHROMA von Jean Laurent Chautems

Aurélien Caeyman spielt Alain. Und Piano. © cineworx

Realismus ist nicht immer überzeugend auf der Leinwand. Manchmal knallt der Mut zur irren Konstruktion viel direkter ins Gemüt.

Das ist jedenfalls so bei dieser belgisch-schweizerischen Koproduktion. Die Figurenkonstellation die uns Regisseur Chautems hier auftischt, ist auf den ersten Blick so künstlich, dass es weh tun müsste.

Tut es dann auch, aber aus den richtigen Gründen.

Solène Rigot als Claire © cineworx

Solène Rigot und Aurélien Caeyman spielen Claire und Alain, zwei verlorene Menschen in einer thrillerkühl gefilmten Stadt. Alain spielt Hintergrund-Klavier in einem Edelrestaurant und kämpft gegen eine ziemlich einzigartige Phobie, die sich auch dem Kinopublikum nur schrittweise erschliesst. Er lebt zurückgezogen in einem sterilen Appartement, in dem er bisweilen absolut unpersönlichen Sex hat mit stetig wechselnden Partnerinnen.

Claire beobachtet ihn durchs Fenster im Gebäude gegenüber. Claire beobachtet alles. Sie ist offensichtlich mindestens so traumatisiert wie Alain, aber sie kämpft dagegen an, mit Wut und Einfallsreichtum und einer mehr als aufdringlichen Kontaktfreudigkeit.

Aurélien Caeyman © cineworx

Was Claire externalisiert, in direkten, unmittelbaren, wütenden Ausbrüchen, internalisiert Alain. Er bekämpft seine Panikattacken mit Kratz- und Waschzwang und mit dem rituellen Aufsagen von Zahlenreihen, die sich aus visualisierten Musiknoten ableiten. So erklärt er es zumindest einmal Claire, als die beiden schon eine fragile Freundschaft etabliert haben.

Claire will Kontakt auf Biegen und Brechen. Sie hat Alain als möglichen Sexualpartner auserkoren, behauptet sie, legt ihm Geschenke vor die Wohnung, folgt ihm auf der Strasse, legt ihr obsessives Interesse an ihm völlig offen – zu offen für den Phobiker – und reagiert auf jede Zurückweisung mit explosiver Wut.

Der Film findet dafür wunderbare Binnenszenen. In der konzisesten ist Claire in einem kleineren Laden am Einkaufen. Der junge Mann hinter der Kassentheke telefoniert begeistert mit einem Kumpel und beachtet die Kundin überhaupt nicht. Darauf zieht sie sich hinter eines der Gestelle zurück und beginnt systematisch Lebensmittelpackungen aufzureissen und am Boden zu verteilen.

Einem Porschefahrer, der sie beschimpft, weil sie ihm abwesend bei Rot vor den Wagen gelaufen ist, zerkratzt sie ausführlich die Motorhaube, als sie in der Nacht zufällig auf das parkierte Fahrzeug trifft.

Das Faszinosum dieses vom Regisseur selbst verfassten Drehbuchs besteht vor allem in den raffinierten Spiegelungen der an sich ausgesprochen simpel gezeichneten Figuren. Zwei beschädigte Menschen treffen aufeinander, er passiv-aggressiv, sie externalisierend.

In Traum- oder Wahnsequenzen kann das dann aber auch drehen. Da wirft dann auch Alain eine Nachbarin die Treppe hinunter, die sich um seine Ängste foutiert hat. Oder er wird von seinem Arbeitgeber am Flügel mit der Krawatte gewürgt und klickt diesen mit der TV-Fernbedienung weg, in einer ebenso komischen wir hervorragend eingeführten und vorbereiteten Sequenz.

Die kühl designten Einstellungen und die permanent überraschenden Idiosynkrasien der beiden Hauptfiguren sorgen für einen extremen Sog in diesem Film. Aber zusammengehalten und aufgeladen wird das alles von der sorgfältigen Stimmigkeit im Einzel- und Zusammenspiel der Darsteller. Es gibt kaum Szenen, in denen mehr als zwei Figuren gleichzeitig vorkommen, und jede einzelne Szene ist für sich genommen ein perfekter, beinahe eigenständiger Kurzfilm.

Ob es Claire gelingt, Alain mit ihrer brachialen Autotherapie mitzureissen, ob sie beide scheitern oder ob etwas drittes entsteht… das füttert den Thriller-Motor und jagt einen durch diesen Film, der immer wieder neue Empathie-Eruptionen von seinem Publikum verlangt und bekommt.

Verleih: cineworx
Kinostart: offen

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