HOW TO SAVE A DEAD FRIEND von Marusya Syroechkovskaya

Die 16jährige Marusya in Moskau ist überzeugt, sie werde das Ende des Jahres 2005 nicht mehr erleben. So viele ihrer Freundinnen und Freunde sind bereits tot – Suizid wirkt unter diesen Teenagern in Putins neuem Russland wie der letzte verbliebene Akt des Widerstands.

Aber dann lernt Marusya Kimi kennen, der so deprimiert, überdreht und überraschend ist, wie sie selbst. Und süchtig nach Kicks, nach Substanzen, nach Ideen. Kimi studiert Geschichte, wenn er dazu kommt; Marusya will Filme machen.

Kimi und Marusya © Docs Vostok/Sisyfos Film

Er sitzt Nächte lang neben ihr, wenn ihre Depression zu stark wird. Er bringt sie zum Lachen: «Ich war überzeugt, niemandem könne es schlechter gehen als mir. Du machst mir Hoffnung!»

Die beiden werden unzertrennlich, sie heiraten. Marusya hält alles mit der Kamera fest, das Gerät ist ihr Kommunikationskanal, ihr Schutzschild, ihr Hoffnungsträger.

Dann merkt Marusya, dass die Drogen Kimi wichtiger werden als sie.

Junkie-Filme haben oft den gleichen Rahmen, den gleichen Verlauf. Auch How to save a Dead Friend ist so gesehen ein Genre-Film, eine Variation auf längst bekannte Schemata.

Und trotzdem ganz anders.

Auch wenn diese Junkie-Jugend, die erwartungsgemäss mit dem Tod von Kimi endet (und beginnt, das Begräbnis steht am Anfang des Filmes), ist die Ausgangslage eine andere als bei den meisten vergleichbaren Filmen.

Kimi © Docs Vostok/Sisyfos Film

Marusya hat 2005 angefangen zu filmen; es gibt Familienaufnahmen von ihr, Kinderbilder, Aufnahmen von der Neujahrsfeier 1999, Putins erster Fernsehneujahransprache nach seiner Machtübernahme von Boris Jelzin, sein Versprechen von Demokratie, Freiheit und Russlands neuer Grösse.

Solche Neujahrsansprachen bilden die Zeitanker in diesem Film, der sich über fast die ganze bisherige Putin-Ära erstreckt. In den Jahren der verzweifelten Liebe zwischen Kimi und Marusya ist es Putins Statthalter Medwedew, der die Reden hält.

Aber Marusyas Aufnahmen machen diesen Film zu einer Langzeitdokumentation mit persönlichem Fokus und gerade dadurch auch zu einem aufschlussreichen Langzeitdokument.

An der russisch-schwedisch-norwegischen Koproduktion sind auch ARTE und der Rundfunk Berlin Brandenburg beteiligt. Marusya Syroechkovskaya und ihre russische Produzentin Ksenia Gapchenko haben Russland kurz nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine im März 2022 verlassen.

Zusammen mit dem schwedischen Koproduzenten Mario Adamson betont das Produktionsteam auf der Webseite zum Film, dass in diese vorwiegend europäisch finanzierte Produktion keine staatlichen Gelder der russischen Regierung eingeflossen seien.

Das ist eine überaus verständliche Anmerkung in der gegenwärtigen Situation. Schliesslich wirkt der ganze Film vor dem Hintergrund des aktuellen Krieges völlig anders, als er es allenfalls bei einer Premiere im Februar an der Berlinale getan hätte.

Aber im Februar war How to save a Dead Friend noch gar nicht fertig gestellt. Den letzten Postproduktionsschliff bekam dieser Dokumentarfilm nach Angaben von Gapchenko im März, also ganz kurz vor der gestrigen Weltpremiere an den Visions du réel in Nyon.

Dieser letzte Schliff hat es in sich, wie die ganze überaus sorgfältige Produktion. Die Organisation der riesigen Materialmengen, das unglaublich subtile und wirkungsvolle Sounddesign und den Schnitt hat die Filmemacherin mit Hilfe des aus Damaskus stammenden Qutaiba Barhamji gestemmt.

Die Originalaufnahmen und das Fernseharchivmaterial der Neujahrsreden (das der Kreml auf seiner Webseite zum freien Gebrauch zur Verfügung stellt) wurden ergänzt durch Drohnenaufnahmen der Moskauer Quartiere, in denen sich Marusya und Kimi bewegten, und mit atemberaubend verfremdeten Animationen nächtlicher Hochhausbilder, welche der Tristesse zuweilen eine traumartige Überwältigung gegenüberstellen.

How to save a Dead Friend mag im Kern eine Junkie-Geschichte sein wie hunderte andere. Aber als Rückblick auf eine Jugend in Putins Russland, der «Depression Federation», als das es von den Kids im Film mit einem russischen Wortspiel bezeichnet wird, lehnt sich dieser Film auch bei etlichen anderen an, die wir in den letzten Jahren gesehen haben.

Verblüffenderweise gehört dazu – auch dank dem Einsatz der Grunge-Musik von Hole, den Songs von Joy Division und vielen russischen Original-Stücken aus der Zeit – Kirill Serebrennikovs Leto, obwohl der in den 1980er Jahren der Sowjetunion spielt.

Die sorgfältige Produktion, insbesondere auch das Sounddesign, macht dieses Stück Zeitgeschichte von Marusya und Kimi in Moskau zudem zu einem komplexen, dichten Kunstwerk.

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