Die Dardenne-Brüder gehören zu den wenigen, welche die Goldene Palme von Cannes zweimal gewonnen haben, dazu kommt eine ganze weitere Reihe von Auszeichnungen an diesem Festival allein. Mit ihrem zwölften Langspielfilm könnten sie theoretisch die dritte Palme holen. Die Dringlichkeit und die thematische Relevanz hat das Drama durchaus.
Dabei ist die Crux der beiden ausgerechnet ihr perfektes Handwerk, die formale Eleganz und die dokumentarische Nähe zu ihren Figuren, an die man sich über die Jahre einfach gewöhnt hat.
Filme wie Le fils von 2002 oder L’enfant von 2005 verblüfften nicht nur mit der stilistischen Nähe und Präzision, sondern auch thematisch mit sozialen Aspekten mitten aus der Gesellschaft heraus.
Mit ihren jüngeren Filmen, wie etwa Le jeune Ahmed von 2019, der sich mit dem Islamismus auseinandersetzte, oder jetzt eben Tori et Lokita, der die Migration und die verzweifelte Lage gerade auch jugendlicher Flüchtlinge in unseren europäischen Systemen thematisiert, fehlt das frühere Überraschungsmoment. Wir sehen da etwas, von dem wir nur zu gut wissen, dass es da ist, was wir im Alltag aber oft lieber verdrängen.
Und wir schalten gleich unbewusst auf Abwehr. Dabei haben die gerade knapp volljährige Lokita und der wahrscheinlich etwa zehn Jahre alte Tori aus Afrika schon die ganze Migrationskarriere übers Meer nach Italien und schliesslich mit Schleppern nach Belgien durchlitten.
Sie geben sich als Geschwister aus, seit sie sich auf dem Boot kennengelernt haben, und ihre Freundschaft ist unverbrüchlich. Das Problem dabei: Tori hat mit seinem Kinderstatus Asyl bekommen, Lokita dagegen wird von den Migrationsbehörden so lange befragt, bis sie sich in Widersprüche verstrickt, ohne Geschwister-Nachweis droht ihr die Abschiebung. Und den angekündigten DNA-Test kann sie aus naheliegenden Gründen nicht abwarten.
Damit läuft die Mechanik, die beiden versuchen, sich finanziell über Wasser zu halten mit Karaoke-Singen in einem Restaurant, deren Koch sie auch gleich als unverdächtige Hasch-Dealer einsetzt. Die afrikanischen Schlepper drängen sie zur Begleichung ihrer Schulden und zuhause wartet Lokitas Mutter auf das Geld, das die Tochter überweisen soll, um die Familie zu retten.
Tori et Lokita ist ein echter Dardenne-Film, dramatisch, realistisch, getragen von charismatischen Darstellern, die überzeugend «echt» wirken. Auch der dramatische Bogen steigert sich subtil. Wenn Lokita nach dem negativen Bescheid als «Gärtnerin» in einer illegalen Haschplantage isoliert wird, ohne Telefon und Verbindung zu Tori, wenn dieser sie ausfindig macht, wenn der Restaurant-Koch sie auch sexuell auszubeuten versucht – das alles ist einleuchtend und überzeugend.
Auch und gerade, weil nicht immer alles die schlimmstmögliche Wendung nimmt, weil es Momente gibt, in denen der Film den Wahlgeschwistern einen kleinen vorläufigen Triumph zu gönnen scheint, fiebert man mit.
Bloss erreicht dieser Spielfilm den Punkt, an dem man sich fragt, ob ein Dokumentarfilm nicht doch wirkungsvoller wäre. Denn so einleuchtend und nachvollziehbar sich das Drama von Tori et Lokita entwickelt: Es lässt mir den Fluchtweg offen. Ich kann das abhaken als engagiertes Drama.
Das ist nicht das Manko des Films, der ist so gut gemacht wie die besten der Dardennes. Es ist das Manko unserer Gesellschaft, dass wir uns das, was wir wissen, aber lieber nicht wissen möchten, auch wenn es richtig gut erzählt wird, lieber wieder auf Distanz schalten.
Das ging bei den frühen Dardenne-Filmen nicht. Weil wir durch sie etwas kennenlernten, von dem wir nicht wussten, sondern bloss ahnten, dass es der Realität entspringen dürfte.