TENGO SUEÑOS ELECTRICOS von Valentina Maurel

Regiepreis Locarno 2022

Rainaldo Amien Gutiérrez, Daniela Marín Navarro © Wrong Men North

Ein Film wie ein Spaziergang über die voll befahrene Autobahn. Es gibt so gut wie keine Sekunde ohne Anspannung, Angst oder gar Wut in dieser Geschichte.

Die elektrischen Träume der sechzehnjährigen Eva in Costa Rica sind Adoleszenz-Albträume. Seit der Scheidung der Eltern spürt sie die Wut des Vaters in sich, das Unbeherrschbare.

Der Vater, eigentlich Musiker und Dichter, explodiert unkontrolliert, wenn ihm etwas nicht gelingt. In der ersten Sequenz des Films schlägt er sich die Stirn blutig am Garagentor, das sich nicht öffnen will.

Während Evas kleine Schwester sich auf dem Autorücksitz vollpinkelt und die Mutter der Mädchen das Autoradio hochdreht, um einen Teil der Wut des Mannes zu übertönen.

© Wrong Men North

Valentina Maurel bleibt konsequent in der Perspektive von Eva. Daniela Marín Navarro ist sensationell in dieser Rolle. Ihre Eva strahlt gleichzeitig Wut, Intelligenz, Trotz und Verständnis für die Situation ihres Vaters aus.

Einen Teil ihrer Verwirrung kanalisiert sie in die erwachende Sexualität, auch da zwischen wütender Selbstbestimmtheit und potentieller Selbstverletzung schwankend.

Der Film ist ein einziger souveräner Balance-Akt auf allen Ebenen. Mit dem Vater hat das Drehbuch die Fähigkeit zur poetischen Analyse gemeinsam, die dabei mehrfach punktgenau in verzweifelter Schönheit landet.

Manche Bilder sind mehrfach vorhanden, so pinkelt nicht nur Evas kleine Schwester ins Bett und in die Hose, wenn sie die Angst packt, sondern auch die kleine schwarze Katze im Haus der Mutter, welche in ihrer Verstörung über die familiäre Auflösung alles vollpisst.

Andere Momente sind überwältigend in ihrer Selbstverständlichkeit. Wenn sich Eva auf dem Sofa liegend die Finger in die Hose schiebt und danach daran riecht, wenn sie in ihrem Zimmer zuerst auf dem Bett und dann an der Pultkante masturbiert, sind das gleichzeitig intime, vertraute Momente und gezielte Publikumsstörungen, weil solche Bilder nicht zum gewohnten Fundus des Erzählkinos gehören.

Die Filmemacherin kann sich auf Sequenzen einlassen, die einem männlichen Regisseur schlicht nicht mehr zugestanden würden. Weil sich der projizierte Blick vom subjektiven massiv unterscheidet.

Was nebenbei die interessante Frage aufwirft, wie wir damit umgehen wollen, dass die Vorstellung der gendermässigen Verortung jener, welche die Bilder verantworten, unsere Wahrnehmung ändern kann.

Rainaldo Amien Gutiérrez, Daniela Marín Navarro © Wrong Men North

Im Kern ist so auch das Funktionsprinzip dieses Filmes definiert. Liebe und Wut, punktueller Hass, Gewaltausbrüche und der verzweifelte Versuch, das alles mit den Mitteln der Poesie irgendwie zusammenzubringen, bestimmen die Anziehung und Abstossung zwischen Eva und ihrer Umgebung und insbesondere ihrem Vater.

Das Drehbuch steigert das konsequent und überraschend auf jenen Punkt hin, an dem sich Eva für sich entscheiden muss und das auch tut. Und dann findet Valentina Maurel sogar da noch ein sorgfältig aufgebautes Moment der poetischen Versöhnung, das sich nur noch in einem einzigen, winzigen Blickwechsel manifestieren kann.

Ein grossartiger, verstörender, konsequenter und liebevoller Film, der seinen Gang über die vollbefahrene Autobahn mit traumwandlerischer Sicherheit zu finden scheint.

Valentina Maurel

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