FOUDRE von Carmen Jaquier

Prix Opera Prima Solothurner Filmtage 2023

Die 17jährige Novizin Elisabeth wird aus dem Kloster heimgerufen. Ihre jüngere Schwester ist ums Leben gekommen, und nun soll Elisabeth bei der Arbeit auf dem Hof helfen.

In Elisabeths Trauer um Innocente mischt sich die Irritation: Mutter, Vater und die zwei jüngsten Schwestern schweigen eisern, der Name der toten Tochter wird nicht mehr erwähnt. Innocente sei dem Teufel verfallen gewesen, heisst es.

Aber dann findet Elisabeth im geheimen Versteck der einst unzertrennlichen Schwestern das Tagebuch von Innocente und merkt, dass diese ihre ganz eigene Spiritualität im Sex gefunden hatte. Einen direkten Zugang zu Gott.

«Innocente war gläubiger als wir alle», erklärt Elisabeth der Mutter. Worauf die nur mit einem panischen «Schweig!» zu antworten vermag.

Carmen Jaquier hat ihren Film in einem abgeschlossenen Bergtal um 1900 angesiedelt, gedreht wurde im Binntal im Oberwallis. Das liege daran, dass sie die Tagebucheinträge ihrer eigenen Urgrossmutter gefunden habe, die in einfacher Sprache den Alltag der Frau nacherzählten.

Zudem ist die kleine geschlossene Gemeinschaft der Bergbauern mit ihrem deutungsmächtigen Pfarrer auch ein idealer filmischer Raum für eine Geschichte um Repression und Zwangsmoral.

Dass Frauen für das offensive und lustvolle Ausleben ihrer Sexualität bestraft werden, sogar von den Männern, die daran beteiligt sind, wird von fast allen Religionen perpetuiert.

In Carmen Jaquiers Foudre bekommt der ländliche Schweizer Katholizismus aber darüber hinaus eine mythische Komponente. Sie findet Bilder und Töne, die ein archaisches Schaudern provozieren und zugleich eine Sehnsucht.

Vor den ersten Einstellungen zeigt der Film alte Fotografien und auch ein Bild von Giovanni Segantini, dessen Farbpalette die nächsten Einstellungen dominiert.

Lilith Grasmug als Elisabeth

Bis eine sehr nahe Einstellung auf das Gesicht von Elisabeth (Lilith Grasmug) im Gegenlicht hinter ihren Wangenknochen eine Art Sonnencorona mit bläulichem Strahlen auf die Leinwand wirft. Von diesem Moment an mäandert die Farb- und Lichtgestaltung zwischen erdig warm und klirrend kalt.

Ganz ähnlich wirkt auch die von Sabine Timoteo gespielte Mutter. Ihren liebevollen Umgang mit den Töchtern kann sie von einem Moment auf den anderen in rigide, angstgetriebene Wut kippen lassen.

Die drei jüngeren Männer, mit denen Elisabeth dann die Erfahrungen ihrer toten Schwester nachvollzieht, sind ebenfalls gefangen in einem kippenden Zustand zwischen jugendlicher Selbstverströmung und gesellschaftlich sanktionierter Gewalt.

Carmen Jaquier inszeniert die vier jungen aneinandergeschmiegten Körper mit einer Zärtlichkeit, die in scharfem Kontrast steht zu den bedrohlich herausfordernden Begegnungen im öffentlichen Raum.

Wobei dieser öffentliche Raum auch ein geschlossener ist. Erst als Elisabeth schliesslich aufbricht und den Berg hinauf steigt, im Schnee, vorbei an einem kleinen, von kindlich gebastelten Kreuzen markierten alternativen Friedhof, öffnet sich das Tal nach oben, ins Licht.

Foudre ist nicht einfach eine auf der Leinwand erzählte Geschichte. Das ist ein durchkomponierter Film, der auf allen gestalterischen Ebenen ein urtümliches Schwingen provoziert, ein Gefühl von möglicher Geborgenheit in einer unmöglichen Welt.

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