TÓTEM von Lila Avilés

Naíma Sentíes in ‚Tótem‘ © Limerencia

Dieser mexikanische Familien-Wirbelsturm ist der bisher intensivste Film dieser Berlinale. Gleich zu Beginn sperrt uns Lila Avilés ins Klo mit der kleinen Sol und ihrer Mutter. Die Kleine sitzt auf der Schüssel und kann nicht so recht, schliesslich pinkelt ihre Mutter kichernd ins Waschbecken neben dran, weil es eben dringend ist.

Die Komplizität der beiden wird noch verstärkt, als von draussen jemand an die Tür hämmert und ruft, das sei eine öffentliche Toilette.

Eine Clownsperücke, eine rote Plastiknase und ein paar Ballons sind die Ausrüstung, welche die Mutter mit der Tochter im Auto hat, als sie zum Haus des Grossvaters fahren. Sol schlägt vor, für einen Moment die Luft anzuhalten, bis sie unter einer Brücke durch sind. Danach dürfen sich beide etwas wünschen. Und auf Nachfrage der Mutter erklärt die Tochter, sie wünsche sich, dass ihr Papi gesund werde.

Das Tempo wird nicht mehr reduziert, im Gegenteil. Im Haus des Grossvaters warten schon die Schwestern des Krebskranken, nehmen ihre Nichte in Empfang und immer mehr Cousinen, Nichten und Neffen.

Die Tante (Montserrat Marañon) mit ihrer Tochter und ihrer Nichte (Naíma Sentíes) in ‚Tótem‘ © Limerencia

Eine grosse Geburtstags-Party ist geplant für den Vater von Sol, der in jenem Zimmer liegt, in dem schon die Grossmutter gestorben ist. Und die Schwestern sind sich keineswegs einig darüber, ob das nun richtig sei, oder ob man den Kranken seinem Wunsch gemäss nicht einfach in Ruhe lassen soll.

Der ganze Wirbel dreht sich immer schneller und meist aus der Perspektive des Mädchens. Menschen kommen an, helfen bei den Vorbereitungen, streiten über das Vorgehen.

Der Grossvater ist wohl Psychiater, jedenfalls hat er noch eine Patientin in der Praxis, die ihm heulend gesteht, dass sie ihren Mann schon wieder betrogen habe – worauf er ganz professionell nachfragt, wie sie sich denn fühle… aber mit einem dieser Stimmgeneratoren, weil ihm offensichtlich der Kehlkopf entfernt werden musste.

Eine Weile scheint, es, als ob in diesem Film lauter quicklebendige, wenn auch erschöpfte Frauen jeden Alters um ein paar kranke Männer herumwirbeln würden. Eine der Tanten hat gar eine Geisteraustreiberin ins Haus geholt, was den Grossvater sehr wütend macht und seine Schimpftirade mit dem surrenden Stimmgenerator ziemlich komisch.

Sol (Naíma Sentíes) © Limerencia

Tótem ist mit einer Perfektion geschrieben und inszeniert, die Schweissausbrüche provozieren kann. Bisweilen wirkt das wie eine einzige Plansequenz, allen schnellen Schnitten zum Trotz. Dass man sich als Zuschauer nicht vom Tempo und der Überforderung erledigen lässt, liegt vor allem daran, dass immer wieder die Perspektive der kleinen Sol einen Moment der Ruhe bringt.

Wenn sie der Pflegerin des Vaters erklärt, sie habe Angst, ihr Papi liebe sie nicht mehr, weil sie nicht zu ihm darf, und er ihr später, als sie ihn streichelt und bemerkt, wie dünn er sei, entgegnet, eben darum habe er sie eigentlich nicht zu sich lassen wollen, drückt einem genau das aufs Herz, was man ja längst schon ahnte.

Dieser Film holt wohl fast alle im Publikum mit dem einen oder anderen Familienmoment an Bord. Da steckt so viel drin, das wir auch schon erlebt haben. Und doch ist das am Ende mehr als bloss eine Erzählung: Sol lernt die Vergänglichkeit begreifen, und die Lebenskraft, die in ihr steckt.

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