Als «reine Unbekannte» bezeichnet Cristina Cattaneo jene Toten, für deren Identifizierung sich niemand zuständig fühlt. Die Mailänder Professorin für forensische Medizin kämpft seit Jahren für ein europäisches Gesetz, das die Staaten verpflichten soll, bei allen Toten die wichtigsten forensischen Erkennungsdaten zu erheben.
Also auch bei den Tausenden von Migrantinnen und Migranten, die nur noch tot geborgen werden, insbesondere aus dem Mittelmeer.
Bei lokalen Katastrophen sei es selbstverständlich, dass der Staat alles unternehme, um die sterblichen Überreste von Menschen zu identifizieren, um die Angehörigen zu informieren.
Bei all jenen, die schon beim Versuch, nach Europa zu kommen, ihr Leben verloren haben, hätten die Angehörigen oft nicht einmal die Möglichkeit, überhaupt aus der Ungewissheit je wieder herauszufinden.
So argumentiert sie vor einem Ausschuss in Strassburg gegen Ende des Dokumentarfilms, in einer Anhörung, an deren Organisation nach jahrelangen Bemühungen kaum mehr jemand geglaubt hatte.
Valentina Cicogna und Mattia Colombo haben viele Jahre gebraucht, um überhaupt das Vertrauen der streitbaren Professorin zu erringen. Ihre Arbeit habe es mit sich gebracht, dass sie mit den Medien vor allem schlechte Erfahrungen gemacht habe, erzählt Cicogna.
Das leuchtet ein, wenn man die Frau bei der Arbeit sieht, beim praxisnahen Dozieren vor Studentinnen und Studenten, beim Untersuchen tausender von Fragmenten von hunderten von Leichen, geborgen unter anderem aus jenem gesunkenen Fischkutter, der zum temporären Grab für unzählige Unbekannte geworden war – bis er schliesslich geborgen wurde und an der Biennale in Venedig (leer) als Memento ausgestellt.
Cristina Cattaneo hat mit ihrem Team hunderte von Leichensäcken ausgepackt, die Überreste untersucht, minutiös gerichtsmedizinisch aufgenommen und dazu tausende von Objekten wie Bustickets, Fotos, vom Meer gebleichte Notizen und korrodierte Mobiltelefone fotografiert und katalogisiert. Alles in der Hoffnung, dem einen oder der anderen Unbekannten schliesslich die Identität zurückgeben zu können.
Das ist kein rundweg subtiler Dokumentarfilm, dafür sind die Filmemacher viel zu reflektiert und planmässig zu Werke gegangen.
Sie hätten keine Lust auf ein passives Publikum, sagt Valentina Cicogna. Um unter anderem das Sounddesign zu erklären, dass bisweilen ganz gezielt dafür sorgt, dass niemandem allzu wohl werden kann im Saal.
Etwa in einer längeren Montagesequenz in der viele der gesammelten Fragmente nacheinander gezeigt werden, verwaschene Fotos, Kleiderfetzen, Spuren eines individuellen Lebens, und darunter liegt ein tiefer, stampfender Ton, der allenfalls an den Dieselmotor eines Schiffes erinnert, wie ihn die zu hunderten im Stahlsarg zusammengepferchten Menschen möglicherweise tagelang ertragen mussten.
Audiofolter im Nachvollzug.
Aber die Entscheidung ist genau so richtig (oder «politisch») wie jene, Cristina Cattaneo ausschliesslich als arbeitende Frau zu zeigen, ohne Hintergrund, ohne Familienzusammenhang. Einzig ihre beiden Hunde kommen ab und zu ins Bild und erinnern daran, dass diese beharrliche Frau wohl auch ein Leben neben ihrer Mission hat.