VEILLEURS DE NUIT / Nightwatchers von Juliette de Marcillac

Eine der freiwilligen „Maraudeuses“ © Dryades Films

Mit einem eindrücklich einfachen Film über freiwillige Flüchtlingshelfer wurde gestern das Dokumentarfilmfestival «Visions du réel» in Nyon eröffnet. «Nightwatchers» wirkt wie eine Antwort auf den Schweizer Oscar-Film «Reise der Hoffnung» von 1990.

Juliette de Marcillac kennt das Skigebiet des französischen Montgenèvre auswendig. Bei Tageslicht. Das Chalet ihres Grossvaters steht in dem kleinen Dorf am Hang unter der Grenze zu Italien.

Aber für ihren Film hat sie die Gegend bei Dunkelheit kennengelernt, mit einer Spezialkamera, bei Vollmond und Sternenlicht.

Denn schon das Leuchten eines Mobiltelefons kann die Freiwilligen verraten, die im Schnee und in der Dunkelheit in den steilen Hängen im Wald neben den Skipisten Flüchtende in Empfang nehmen und versuchen, sie heil an den ebenfalls ausschwärmenden Gendarmen vorbeizuführen.

Es ist ein absurdes, beschämendes Katz- und Mausspiel um Menschenleben mitten in Europa. Migrantinnen und Migranten versuchen, aus Italien über die offene Grenze nach Frankreich zu gelangen. Viele von ihnen kommen aus Afghanistan, haben schon tausende von Kilometern zu Fuss zurückgelegt.

Italien hat nichts dagegen, sie weiterziehen zu lassen. Aber die französische Polizei hat den Auftrag, möglichst viele von Ihnen so schnell wie möglich wieder nach Italien zurückzuschaffen, ohne ihnen eine Chance für den gesetzlich garantierten Asylantrag zu lassen.

Eine der freiwilligen Frauen von «Médecins du monde» im Film erklärt, warum sie sich die Nächte in der Kälte und der Gefahr des Hochgebirges um die Ohren schlägt:

Es seien immer gleich viele, die kämen. Je stärker die ungefährlichen Grenzübergänge kontrolliert würden, desto mehr aber würden sie sich den Gefahren der hohen Alpenübergänge aussetzen.

Kranke, Schwangere, Eltern mit kleinen Kindern. Und jedes Mal, nachdem sie von der Polizei im Kastenwagen zurück nach Italien gefahren worden seien, würden sie es wieder versuchen. Denn nach den Strapazen und Gefahren von tausenden von Kilometern, die sie schon hinter sich hätten, bleibe ihnen in der Verzweiflung gar nichts anderes übrig.

Die freiwilligen Helferinnen und Helfer nennen sich «Maraudeurs» und «Maraudeuses» in einer abenteuerlich positiven Abwandlung eines Begriffs, der auf Deutsch gemeinhin mit «Plünderer» zu übersetzen wäre.

Diese «Veilleurs de nuit», die «Nightwatchers» des Filmtitels tun das, was ihnen ihr Gewissen vorschreibt: Sie helfen, retten, versorgen.

Da sind Krankenschwestern darunter, Ärztinnen, Studenten, Menschen aller Altersgruppen. Etwa ein Dutzend von ihnen organisiert sich pro Nacht in Zweierteams im Wald, in den Hängen, beobachtet – wie die Polizei – die möglichen Passagen auf Bewegungen und versucht, die oft erschöpften oder gar verletzten Migrantinnen und Migranten in Epfang zu nehmen, zu versorgen und ins reguläre Asylzentrum oder ins Spital zu bringen.

© Dryades Films

Die Arbeit der Maraudeurs ist nicht nur legal, wie sie betonen, sie entspricht eigentlich den Vorgaben des Gesetzes: Wer Menschen in Gefahr im Stich lässt, macht sich strafbar.

Gleichzeitig achten die Freiwilligen darauf, stets einen Sicherheitsabstand zur eigentlichen Grenze zu wahren, um nicht als Schlepper diskreditiert zu werden. Sie helfen nur jenen, die den Grenzübertritt schon geschafft haben.

Nightwatchers ist der erste lange Dokumentarfilm von Juliette de Marcillac. Und er erfüllt alle Regeln des klassischen «Cinema directe»: Kein zusätzlicher Kommentar, alles erschliesst sich aus den gezeigten Szenen und dem, was Flüchtende und Helfer erzählen.

Und die Filmemacherin schafft es so auch, auf relativ neutralem Grund zu bleiben, auch wenn sie sozusagen «embedded» mit ihrem Kameramann die Maraudeurs begleitet.

Wie sehr sie ihre eigene Arbeit aber auch theoretisch durchleuchtet, zeigt sich im Gespräch nach der Erstaufführung des Films. Klar sei sie von den Fakten ausgegangen, von der Absurdität des grausamen nächtlichen Spiels im Ferienort ihrer Kindheit.

Beim Filmen verändere man immer die Situation, am deutlichsten sei das in jenen Szenen mit den Polizisten, die sich den Freiwilligen (und der Kamera) gegenüber nicht bloss korrekt, sondern durchaus menschlich und verständnisvoll zeigten.

Aber zugleich gehe es bei Nightwatchers auch darum, Unsichtbare und Unsichtbares sichtbar zu machen. Und das sei die eigentliche Aufgabe des Dokumentarfilms.

Das ist Juliette de Marcillac mit diesem Film gelungen. 33 Jahre nach Reise der Hoffnung und ohne einzelne Protagonistinnen und Protagonisten hervorzuheben, weder namentlich, noch mit Hintergrund.

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